Michelangelo Antonionis erster internationaler Film – und gleichzeitig wohl sein berühmtester – BLOWUP ist eine Krimigeschichte ohne den Krimi, ein Puzzle ohne Lösung, eine Erkenntnis zum Nichtwissen. Im London der Swinging Sixties – BLOWUP erschien 1966 – glaubt der Photograph Thomas, zufällig mit seiner Kamera einen Mord beobachtet zu haben, aber die näheren Umstände der Geschehnisse bleiben rätselhaft. Antonioni geht es auch gar nicht um die Auflösung des Todesfalls, oder darum, den Suspense-Mechanismen zu folgen.
Der Film braucht eine ganze Zeit, bis er überhaupt zu dem mysteriösen Mord kommt. Vorher begleiten wir Thomas durch seine Welt: Die Photosessions mit diversen Models, die zwischen überdrüssiger Langeweile und Ersatzerotik pendeln. Demonstranten auf der Straße. Groupies, die unbedingt vor Thomas' Kamera wollen. Stöbern durch einen Antiquitätenladen, wo Thomas völlig sinnlos einen alten Propeller kauft. Und dann photographiert Thomas in einem Park ein Pärchen – eine junge Frau und einen etwas älteren Mann. Die Frau bemerkt Thomas und fordert den Film von ihm zurück, aber er gibt ihn ihr nicht und fährt nach Hause ins Studio.
Dort besucht ihn die Frau nach kurzer Zeit – offenbar ist sie ihm gefolgt – und bittet erneut um den Film. Sie bietet ihm dafür sogar Sex an. Er gibt ihr schlußendlich den falschen
Film und läßt sie gehen. Dann entwickelt er neugierig die Photos aus dem Park und hängt sich die Vergrößerungen an die Wände. Hier beginnt die perfekt geschnittene Sequenz, die das Herzstück des Films ausmacht: Thomas' langsame Entdeckung, daß die Dinge offenbar nicht so sind, wie sie scheinen. In der Vergrößerung zeigt sich, daß sich der Mann und die Frau gar nicht umarmen, sondern, daß er sie festhält. Sie schaut zur Seite – in die Büsche? Was ist in den Büschen? Und was könnte der Fleck sein, der hinter einem Busch versteckt auf dem Boden zu sehen ist? Mit all den Vergrößerungen und Ausschnitten, mit denen sich Thomas seine Wohnung dekoriert, ergibt sich plötzlich ein ganz eigener Handlungsablauf, der in einem Moment durch die bildfüllenden Photographien wie als Diashow erzählt wird.
Von der weiteren Aufklärung des Falls läßt sich Thomas ein wenig ablenken. Zwei Groupies, die sich unbedingt von ihm photographieren lassen wollen, kommen in sein Studio, und er wälzt sich mit den beiden nackten Mädchen in einem grotesken Gerangel am Boden. Dann fährt er nachts hinaus zum Park und findet tatsächlich eine Leiche in den Büschen. Er fährt zurück zum Studio, um seine Kamera zu holen, aber vorher will er seinem Freund von dem Fund erzählen. Auf einem Konzert findet er den Freund, zu stoned, um sich für Thomas' Geschichte zu interessieren. Thomas läßt sich von der Party mitreißen und kehrt erst am nächsten Tag in den Park zurück – wo keine Leiche mehr zu sehen ist. Seine Photos sind aus seinem Atelier verschwunden, es bleibt ihm nur eine Vergrößerung des hellen Fleckes, die so abstrakt ist, daß sie nichts beweist.
Dann sieht Thomas einer Gruppe Pantomimen zu, die Tennis spielen – ohne Schläger und ohne Ball, versteht sich. Eine Gruppe Menschen sieht dem "Spiel" zu, bis der nicht reale Ball über den Platz hinweg zu Thomas ins Gras fällt. Die Kamera folgt dem unsichtbaren Tennisball durch die Luft; wir sehen ihn förmlich auf dem Gras ausrollen. Thomas tut so, als würde er den Ball aufheben und den Pantomimen zuwerfen. Dann sieht er dem "Spiel" zu – und während die Kamera auf seinem Gesicht bleibt, hört er die Geräusche eines echten Tennisspiels. Den Aufprall des Balles auf dem Schläger, das Abfedern des Balles vom Boden. Er lächelt.
Die letzte Sequenz verdeutlicht, worum es Antonioni eigentlich geht: Um die Wahrnehmung. Um unsere Interpretation der Wirklichkeit. So wie Thomas aus einzelnen Bildern einen Handlungsablauf konstruiert und "gesehen" hat, sieht er dem unwirklichen Tennisspiel zu. Gab es tatsächlich einen Mord? Für Thomas ja. Die Interpretation der Photographien macht Sinn. Aber ob sie stimmt, wissen wir nicht. Immerhin hatte im wirklichen Leben der Profumo-Skandal 1963 für Aufregung gesorgt: In diesem Kontext können die Bilder und die Rollen der beteiligten Personen völlig anders gedeutet werden.
Die Verschiebung der individuellen Wahrnehmung zieht sich durch den gesamten Film. Auf dem erwähnten Konzert zertrümmert der Gitarrist (Jeff Beck!) seine Gitarre und wirft ein Bruchstück davon in das Publikum, das sich darauf stürzt. Thomas greift das Stück und rennt auf die Straße, wo er es wegwirft. Auf dem Gehsteig ist das Objekt nurmehr ein Stück Müll, das keinen mehr interessiert. Plötzlich verschieben andere Szenen: Warum hören wir die beiden Groupies in Thomas' Studio lachen, obwohl sie in manchen Einstellungen eindeutig ängstlich aussehen? Warum sind die Mädchen so plötzlich wieder angezogen? Ein Gefühl der Illusion webt sich langsam durch den Film: So wie Thomas der myseriösen Frau einen falschen Film gibt, schreibt sie ihm eine falsche Telefonnummer auf. Nichts ist echt.
Thomas' Welt ist ein Leben voller Zurückweisung und
Ennui, und er bleibt meist der außenstehende Beobachter. Die schönen Models in seinem Studio langweilen ihn zunehmend, und er behandelt sie wie Dreck. Die Dinge sind an der Oberfläche interessant – der gekaufte Propeller ist intuitiv "cool", aber natürlich völlig sinnfrei. Thomas ist an der Freundin seines besten Freundes interessiert, aber es bleibt eine Sehnsucht aus der Ferne: In einer Sequenz beobachtet Thomas die beiden beim Sex, und seine Augen treffen sich mit ihren. Lädt sie ihn ein, zuzusehen? Im wirklichen Leben wie mit seiner Kamera ist Thomas ein oberflächlicher Voyeur, der die Geschehnisse nur interpretieren kann, aber immer außen vor bleibt.
Antonionis Film ist zunächst frustrierend anzusehen – die Versprechung einer Krimihandlung wird selbstverständlich nie eingelöst, und die Sinnhaftigkeit vieler Szenen offenbart sich erst später. Oder beim zweiten Ansehen. In den Sechzigern war Thomas' Leben für viele Zuseher erstrebenswert – schöne Frauen, schnelle Autos, sorglose Arbeit – aber in Wirklichkeit ist der Photograph ein hoffnungsloser, im wahrsten Sinne des Wortes "lebensmüder" Hedonist. Sobald man aber Antonionis Themen aufgegriffen hat, ziehen sie sich subtil durch die Geschichte und bieten ständige neue Ansatzpunkte, einzelne Sequenzen neu zu betrachten.
Faszinierend ist Antonionis Bildkompositionen, die oftmals – wenig überraschend – Photographien ähneln. Thomas ist meistens im Bild angeschnitten – er steht hinter einem Dachbalken, wird durch die Kante einer Glasscheibe "gebrochen": Wir können ihn nur aus einer gewissen Distanz heraus beobachten, und er wird uns nicht klar. Die Musik – komponiert von Jazzmeister Herbie Hancock! – fängt die Zeit perfekt ein, tönt aber immer aus Radios und Stereoanlagen – eine Textur, deren Beat-Färbung das Lebensgefühl, "im Moment zu sein", ausdrückt, aber gleichzeitig eine absolute Nebensächlichkeit bleibt.
BLOWUP ist ein Meisterwerk, dem man sich nur langsam nähern kann. Wie der Todesfall in der Geschichte ist der Film ein Puzzle, zu dem es wahrscheinlich keine konkrete Lösung gibt. Die Reise lohnt sich, weil der Film nach dem Ansehen im Kopf wächst und weiter wächst. Und weil jedes Ansehen neue Facetten offenbart. Antonioni mag sich gegen gängige Erzählkonventionen sperren, aber letzten Endes ist BLOWUP auch ein Film über uns als Kinogänger: Wir sehen, was wir sehen wollen.