Auch wenn man von Michael Winterbottom keinen oder nur einen Film gesehen hat, lassen sich durch Verfolgen der Filmwelt zwei Dinge über ihn feststellen. Das Erste – er filmt viel und schnell. Das Zweite – er experimentiert, probiert aus, versucht sich in verschiedenen Genres (Doku "Road to Guantanamo", Sci-Fi "Code 46"). In "9 Songs" versucht er sich an einer Geschichte über Liebe und Leidenschaft. Es ist ein Experiment über Sex und Musik, eine moderne Liebesgeschichte. Und es ist in zweierlei Hinsicht außergewöhnlich, doch dazu etwas später.
Erzählt wird die Geschichte in einer großen Rückblende, der Erzähler ist Matt, ein Antarktisforscher. Sein Beruf hat aber mit dem Film eher wenig zu tun. Zu Beginn ist er am Südpol, um dort zu arbeiten und erinnert sich an seine Beziehung zu Lisa, einer amerikanischen Collegestudentin.
Was wir dann sehen ist ein Liebesfilm über eine Beziehung über den Verlauf eines Jahres, der uns all das zeigt, was andere Liebesfilme auslassen. Den Alltag. Und vor allem, explizit, ausgiebig und echt – Sex.
Winterbottom erzählt uns die Geschichtet dieser Liebe über Sex. Im ersten Moment mag es wirken, als würde die Beziehung nur über Sex funktionieren und die Partner haben sonst nicht viel gemeinsam, doch Winterbottom schafft es tatsächlich die Verliebtheit der beiden einzufangen, die er durch schöne, kleine und Alltagsbeobachtungen ergänzt. Das gemeinsame Kochen und Essen. Das banale Gespräch bei
einer Autofahrt. Ein Streit wegen Kopfschmerzen. Diese Sequenzen zeigen, dass noch mehr ist zwischen den beiden, als wir zu sehen bekommen, dass da ein komplettes Leben, ein kompletter Alltag existiert, in dem sie leben und sich lieben, doch "9 Songs" hat wenig Interesse daran, uns Dinge zu zeigen, die wie ohnehin aus abertausenden Liebesfilmen kennen.
Und so hängen sich die Stationen dieser Liebe an Sex und rundum Sex auf. Das behutsame, neugierige Kennenlernen, der erste Morgen, der hingebungsvolle Beginn voller Leidenschaft. Die Eifersucht, in der die beiden in eine Stripteasebar gehen und Lisa so fasziniert ist von einer Tänzerin, dass Matt verärgert nachhause geht. Eine Phase der Entfremdung, in der sie nicht miteinander schlafen, Lisa sich selbst befriedigt und Matt allein auf ein Konzert geht: "Lisa didn't want to go to the gig that night, so I gave her ticket away. Five thousand people in a room and you can still feel alone." Die Versöhnung, als Lisa plötzlich mit einer Schleife an der Hüfte in der Tür steht. Jede Beziehung hat ihre Täler, man taucht durch und irgendwann geht es wieder weiter.
Das alles findet seine Entsprechung in der Musik. Rock’n’Roll als Ausdruck von Leben, Leidenschaft und Sex. Neun Konzertsequenzen sehen wir im Laufe des Films und die Songs, wie das fröhliche "Movin on up" von Primal Scream oder das wehmütige "The last high" von The Dandy Warholes, sind perfekt in den Lauf der Geschichte platziert. Musik ist auch die gemeinsame Leidenschaft von Matt und Lisa, sie haben sich auch auf einem Konzert kennengelernt und gehen eben regelmäßig in die Brixton Academy um sich Franz Ferdinand, Primal Scream, Black Rebel Motorcycle Club oder Super Furry Animals anzusehen. Für einen vollen Konzertsaal (alle Musiksequenzen wurden während echter Konzerten gefilmt) sind diese Szenen großartig gefilmt (alles digital) und funktionieren ohne viel Dialog. Die beiden auf den Konzerten, in der Mitte ihrer Kreise, sind ausdrucksstark genug.
Am Ende singen Black Rebel Motorcycle Club "Now she’s gone and love burns inside me...", doch Matt und Lisa sind nicht mehr dabei. Sie ist zurück nach Amerika gegangen und er ist schon in der Antarktis, die mit ihrer Kälte und Weite als krasser Gegensatz zum Rest des Filmes funktioniert. Matt erklärt, dass man auf diesem Kontinent gleichzeitig Platzangst bekommen und sich verloren und verängstigt von der Weite fühlen kann, "just like two people in a bed."
Das zweierlei außergewöhnliche an "9 Songs" ist zum einen, dass Winterbottom hier versucht, eine Liebesgeschichte ohne die üblichen Komponenten zu erzählen, sondern sich auf genau das beschränkt, was üblicherweise ausgelassen wird. Der Film kommt so mit wenig Dialog aus, die Sexszenen sind behutsam inszeniert, warm und erotisch und fangen die Leidenschaft der Liebenden wunderbar ein. Von Ausbeutung des Sex kann keine Rede sein, der Vorwurf der Pornographie, den sich Winterbottom gefallen lassen musste, ist völlig absurd und rührt wohl eher von einem falschen Verständnis des Wortes Pornographie her. Nicht jeder echte Sex im Film ist Pornographie.
Und zum anderen außergewöhnlich ist das Gelingen des Versuchs. Winterbottom hat es tatsächlich geschafft daraus einen ruhig fließenden, warmen, schönen Film zu machen, der vielleicht an einem Punkt ein wenig dünn ist, nämlich der Charakterentwicklung. Das ist aber allerdings dem Konzept geschuldet, das eine intensive Charakterentwicklung nicht zulässt. Was aber andererseits auch als Vorteil funktioniert, weil Matt und Lisa und ihre Beziehung vage und allgemeingültig genug bleiben, um ein Teil von uns allen zu sein.