(GB, 1984)
"Ganz egal wohin man schaut, sind Kameras aufgebaut / Begleiten dich auf Schritt und Tritt, die Sicherheit geht mit dir mit"
(Planlos, "Überall wohin's dich führt")
"If you want a vision of the future, imagine a boot stamping on a human face forever.“
Wollte man einem Roman die größtmögliche Gewalt antun, muss man ihn zur Schullektüre erklären. Orwell und Huxley: beides Namen, die längst mit ihren berühmten Dystopien
Brave New World und
1984 verschmolzen zu sein scheinen, ungeachtet ihres restlichen Oeuvres. Bei Huxley hielt sich der pädagogische Overkill ein kleines bisschen mehr in Grenzen. (Wenn auch vielleicht nur gefühlt). Seine visionäre Leistung, in der er genetische Menschenzüchtungen, Reiz-Reaktions-Konditionierungen als soziale Erziehungsmethode und gedopte Spaßgesellschaften voraussagte, war etwas zu vertrackt, um sie desinteressiertem Schülervolk vorzusetzen. Wenn man böse und versnobt genug wäre, könnte man ‚Perlen vor die Säue werfen’ dazu sagen. Aber lassen wir das.
George Orwell hatte weniger Glück. Seine bereits in Todesahnung verfasste Anklage gegen die Ausbreitung totalitärer Systeme, die zu diesem Zeitpunkt, 1948, sehr wahrscheinlich schien, las man in der westlichen Welt als anti-kommunistisches Manifest. Was vornehmlich der Grund war, der
1984 zum Backstein in der Bildungskanonmauer d
es westdeutschen Schulwesens werden lies. Es hatte eine realpolitische Eindeutigkeit, die bei Huxley fehlte. Die Stellen, in denen er den Kapitalismus als notwendigen Teilbestand des Totalitarismus beschrieb, hatten die meisten wohl überlesen.
Und während die schöne neue Welt von Huxley noch recht phantastisch aussah, war Orwells Zukunftsvision fast von der politischen Aktualität eingeholt worden.
Denn eigentlich hatte man es gar nicht mit der Zukunft zu tun. Natürlich spielte die Handlung im damals fiktiven 1984. Aber nicht alles, was in ferner Zeit abläuft, ist automatisch Science Fiction, oder? Heute liest sich dieses Buch fast wie ein zeithistorischer Roman, die Referenzen liegen alle offen auf dem Tisch. Das Konzept der totalen Überwachung und des staatlich organisierten Terrors war in der stalinistischen Sowjetunion erprobt, auch Nazi-Deutschland erkennt man ohne Mühe wieder. Die Geschichtsklitterung, das publizistische Auslöschen von Menschen, das Kontrollieren des kollektiven Gedächtnisses durch Dokumentenfälschung hatten die Bolschewisten ebenfalls schon praktiziert.
Und der berühmte Entwurf vom „Neu-Sprech“ ist eine genaue Umsetzung der Sapir-Whorf-Hypothese, nach der die Sprache das Denken notwendig bestimmt und auch die Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Geistes determiniert. Und wenn eine Sprache so designt wird, dass sie keine Ausdrücke mehr für rebellische und systemkritische Gedanken bereithält, dann sei auch im Denken und Handeln kein Widerstand mehr möglich. Eine Theorie, der Linguisten und Psychologen heute, in ihrer radikalen Variante, eine Absage erteilen. Doch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den persuasiven Symbolsystemen des Faschismus, den Sprachlenkungen und der rhetorischen Brachialgewalt eines Josef Goebbels, erschienen solche Gedanken nicht unplausibel.
Orwell ging noch weiter. Sein Buch liest sich noch heute mit Grausen, weil er seine Ängste ins Radikale steigerte und zum Alptraum des 20. Jahrhunderts verdichtete. Und eine Welt erschuf, in der die totale Überwachung perfektioniert worden ist. Es ist vermutlich die dunkelste, monströseste, schauerlichste Vision, die ein Mensch jemals von der nahen Zukunft haben konnte. Doch verfilmbar erschien sie durchaus. An Huxley hat sich niemals ein Filmemacher herangetraut.
Der erste Versuch erfolgte in den Fünfzigern. Es war eine eher freie Adaption von Michael Anderson, das Ergebnis war unsubtile Kalte Krieg-Propaganda. 1984, im Orwelljahr, machte es Michael Radford besser. Er kreierte eine Bildwelt, in der sich realsozialistische Ästhetik mit Verweisen auf die britische Nachkriegsära mischen. London ist marode, die Wohnungen karg und dreckig. Technizistische Symbolik hat Radford auf ein Minimum reduziert. Nur die überdimensionalen Bildschirme scheinen etwas mit Science Fiction zu tun haben.
Und er hielt sich eng an die Romanvorlage. Beschreibt den Weg des Parteimitgliedes Winston Smith (John Hurt), der im fiktiven Jahr 1984 im fiktiven London lebt, das von den englischen Sozialisten beherrscht wird. Doch London oder anderswo macht keinen Unterschied. Die ganze Welt wurde nach dem Weltkrieg Opfer einer Revolution von oben. Der Anfang vom Ende.
Big Brother, eine omnipräsente Führerfigur, eine in Wahrheit erstunken und erlogene Fata Morgana, grient von jeder Wand, aus jedem Blickwinkel. Die Hubschrauber fliegen durch die Gegend und glotzen den Menschen in die Fenster. Die Bildschirme, Televisoren, beherrschen den Raum. Sie dienen als Sender und Empfänger. "Es war somit möglich, dass jeder zu jedem Zeitpunkt beobachtet wurde."
Zu Beginn hockt Winston in einer stillen Ecke seiner Behausung. Die einzige, die nicht vom Televisor erfasst ist. Er beginnt ein Tagebuch zu schreiben, was natürlich verboten ist. Alles, was 'privatistisch' ist, ist verboten. Es sind die ersten Regungen des Widerstandes. Er spitzt die Feder und sinniert traurig in die Leere. Im Hintergrund perlen kristalline Synthesizer wie Eisregen.
"4. April 1984 (glaub ich jedenfalls). Der Vergangenheit, oder der Zukunft, einer Zeit, in der Gedanken frei sind, aus dem Zeitalter des Großen Bruders und der Gedankenpolizei, sendet euch ein toter Mensch Grüße." Eine sehr introvertierte Rebellion.
Er tut noch mehr verbotene Dinge. Geht eine Liebesbeziehung mit der gleich gesinnten Parteigenossin Julia (Suzanna Hamilton) ein. Sie mieten sich ein kleines Zimmer für Schäferstündchen und ruhige Momente, eine Oase in einer toten, kalten Welt. Winston will in den aktiven Widerstand, wird am Ende jedoch gefasst und umerzogen.
Mit John Hurt machte der Regisseur einen sehr guten Griff. Der Engländer spielt Winston Smith mit genau der Doppelbödigkeit, die Orwell im Sinn gehabt haben muss. Äußerlich ausgemergelt und kaputt, innerlich (noch) ein grüblerischer Systemkritiker. Suzannah Hamilton als Julia hingegen ist etwas blasser geraten. Das liegt aber vermutlich daran, dass ihr Part auch so gezeichnet ist. Sie ist eine Liebschaft und Komplizin und mehr nicht. Ihre Figur gehört dummerweise zu den Frauenrollen der Weltliteratur, die in erster Linie dazu da sind, die psychologische Entwicklung und Reifung des männlichen Protagonisten in Gang zu setzen. Sie bekommt nicht einmal einen Nachnamen.
Dann Richard Burton. Er verkörpert den Parteifunktionär O´Brien, der sich zuerst als Verbündeter ausgibt, nur um sich schlussendlich als Systemscherge zu entpuppen und Winston im gesamten dritten Teil des Romans politisch und kognitiv neu zu formatieren.
Man hätte sich diese Rolle leicht diabolischer und ausschweifender vorstellen können. Andere Schauspieler hätten aus ihrem O´Brien eventuell einen modernen Mephisto gemacht und sich an einer (vielleicht aussichtslosen) Over The Top-Performance versucht. Und jemand wie Burton wäre dafür prädestiniert gewesen.
Deshalb wirkt seine fast introvertierte Spielweise auf den ersten Blick irritierend. Aber vermutlich war das der viel bessere Weg. Er spielt O´Brien mit böser, kalter Zurückhaltung. Wenn er Winston foltert, macht er das mit einer ruhigen, fast teilnahmslosen Präzision, die an die Untertanen-Arbeitsmoral eines Adolf Eichmann gemahnt. Umso mehr Schrecken verbreitet Burton dabei, bis zum grausigen Finale in Raum 101. Dort lauert „das Schlimmste auf der Welt.“
Radford hielt sich auch im Ende an das Buch. Winstons Wille wird gebrochen. Er kapituliert in dem Augenblick, in dem er, mit seiner Molochangst konfrontiert, schreit: „Nehmt Julia! Tut es ihr an, und nicht mir!“ Das ist der wahre Verrat, den Orwell meint.
Die primären Qualitäten von
1984 liegen in der Werktreue und der ideologischen Sensibilität (die dem Vorgänger aus den 50ern abging). Die Zurückhaltung, diese Nicht-Monumentalität, die den ganzen Film durchzieht, ist Geschmackssache. Leicht hätte man was sehr bombastisches versuchen können. Und vielleicht wird das auch noch mal geschehen; man munkelt, Tim Robbins soll an einer erneuten Verfilmung interessiert sein. Und das wäre dann ein Rasierklingenritt. Beeindruckend und kolossal, wenn es gelingt. Eine Lachnummer, wenn nicht.
Die stärksten Momente hat der Film mitnichten in den Augenblicken der Erkenntnis, des Blickens hinter den Vorhang und die Einsicht in die perverse Philosophie eines totalitären Systems, so wie es im Roman der Fall ist. Das sind Szenen, die bei Radford leider etwas zu kurz geraten sind.
Nein, es sind die ruhigen Momente, Winstons Träume, die Radford mit viel Sinn für melancholische Poesie in Szene gesetzt hat. Träume, die aus einer anderen Zeit und Welt stammen. Aus einer Zeit kurz nach dem Krieg, als die Menschheit kurz vor ihrer Versklavung stand. Aus einer Welt jenseits des Hier und Jetzt, in der er frei sein darf. Wo die Stimme des vermeintlichen Freundes O´Brien ihm verheißungsvoll ins Ohr flüstert: „Wir müssen uns treffen. An einem Ort, wo keine Dunkelheit herrscht.“
Ein Leben, ein Überleben in dieser Dunkelheit ist nur möglich, wenn es in einem selbst dunkel ist. Tröstliche Stummheit in einer Welt, in der es keine echten Menschen mehr geben kann. Orwells Roman beschreibt nichts weniger als die Auslöschung des Menschen und des freien Geistes. Die Welt existiert weiter, nur gibt es nicht Lebenswertes mehr in ihr. Nicht umsonst lautete der Arbeitstitel: „The Last Man in Europe.“
Radfords
1984 ist kein opulentes Opus, eher eine fast unspektakuläre Angelegenheit, die subkutan wirkt. Man kann enttäuscht sein, wenn man den Roman kennt. Aber das ist das Drama jeder Literaturverfilmung: dass fremde Bilder nur selten mit dem eigenen Kopfkino konkurrieren können.
Ganz nebenbei:
1984 war auch der letzte Film des großen Richard Burton. Er starb kurz nach den Dreharbeiten. Einen wie ihn gab es im modernen Kino nie wieder.