von Asokan Nirmalarajah
The Last Station (2009), eine prestigeträchtige internationale Co-Produktion zwischen Deutschland, Großbritannien und Russland, die Anfang 2010 unter dem Titel
Ein russischer Sommer in die deutschen Kinos kommen wird, sorgte in den vergangenen Wochen für viel Aufregung in einem kleinen, aber lauten Kreis von Branchenkennern, Entertainment-Journalisten und Internetbloggern. Diese selbsterklärten, streitlustigen Oscar-Prognostiker, die nicht selten schon wenige Stunden nach dem Ende einer Oscar-Zeremonie damit beginnen, auf die möglichen Gewinner der nächsten Verleihung zu tippen, wurden nach einigen, weniger aufregenden Entwicklungen im Oscar-Rennen Mitte Oktober auf einmal ganz hellhörig. Die unerwartete Ankündigung, dass ein Film wie
The Last Station von Sony Pictures Classics doch noch Ende Dezember ins Rennen geschickt werden würde, stellte auf einmal die bislang relativ klaren Nominierungslisten auf den Kopf. Der Film, der im September noch seine Weltpremiere auf dem Telluride Film Festival feierte, riecht nämlich so stark nach einem typischen Oscar-Film, dass man sich fast die Nase zuhalten möchte. Hier nur einige der Oscar-freundlichen Zutaten: a) Literaturverfilmung: der Film basiert auf dem von Kritikern gefeierten biographischen Roman von Jay Parini von 1990, b) Künstlerbi
ographie: der Film schildert das letzte Lebensjahr des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi, c) Historienfilm: ein detailliertes Zeitkolorit mit hübschen Kostümen vor mal sonniger Naturkulisse, mal in prächtig ausgestatteten Räumen, d) hochkarätige Besetzung: Oscar-Gewinner wie Helen Mirren, Oscar-nominierte und längst überfällige Kandidaten wie Christopher Plummer und Paul Giamatti sowie der vielversprechende Nachwuchsmime James McAvoy und f) eine massentaugliche Genre-Mischung: ein Film für die ganze Familie, mit reichlich Komik, Dramatik und sogar zwei Liebesgeschichten – für die älteren wie für die jüngeren Semester. Bei all der Oscar-Hysterie haben es die Prognostiker aber versäumt, das Kleingedruckte zu lesen. Regie und Buch: Michael Hoffman.
Michael Hoffman, der sich bisher vor allem mit putzigen, harmlosen Beziehungskomödien wie
Soapdish (1991) und
One Fine Day (1996) einen Namen machen konnte, lieferte mit der opulent ausgestatteten Shakespeare-Verfilmung
A Midsummer Night’s Dream (1999) zwar eine der unterhaltsameren Adaptionen des Barden ab, gilt jedoch aufgrund von Filmen wie
Restoration (1995) und
The Emperor’s Club (2002) als Spezialist für prätentiösen Hollywood-Kitsch, in dem sehr gute Darsteller vergeblich gegen die opulente Ausstattung und die arg konstruierten Handlungselemente anspielen. Ähnlich auch bei
The Last Station, der auf dem ersten Blick alle nötigen Zutaten für einen publikumswirksamen Arthouse/Mainstream-crossover-hit á la
The English Patient (1996) oder
Shakespeare in Love (1998) hat, aber an einem biederen Skript und einer einfallslosen Inszenierung kränkelt. Doch, wer weiß: die Oscar-Academy hat schon schlechtere Filme nominiert.
Erzählt wird hier die Geschichte des jungen, jungfräulichen Sekretärs Valentin Bulgakov (James McAvoy), dem die seltene Ehre zukommt, Leo Tolstoi (Christopher Plummer) zu assistieren. Es ist das Jahr 1910 und Tolstoi ist der vielleicht berühmteste Russe der Welt, verfolgt von Lebenschronisten, die jedes seiner Worte notieren und publizieren, und von Fotografen und Kameraleuten, die nicht aufhören können, ihn abzulichten. Der Kult um seine Person erstreckt sich auch zu der Kommune der Tolstojaner, die nach den Weisheiten und Lebensphilosophien Tolstois leben und von Tolstois treuem Jünger Vladimir Chertkov (Paul Giamatti) geleitet werden. Auch Valentin ist ein Tolstoianer, dessen Weltsicht jedoch gehörig auf den Kopf gestellt wird durch die hübsche Mascha (Kerry Condon), in die er sich verliebt, und durch die streitlustige Gattin Tolstois. Sofia Tolstoi (Helen Mirren) ist der religiöse Kult um ihren geliebten Mann nämlich nur noch lästig und sie sieht in Chertkov, der Tolstoi dazu drängt, die Rechte an seinen Werken dem russischen Volk und nicht seiner Familie zu hinterlassen, nur einen widerlichen Opportunisten. Der ständig nervöse Valentin wird zum unfreiwilligen Spielball zwischen Sofia und Chertkov. Bis die Situation zwischen dem anti-materialistischen Tolstoi und seiner auf ihren Wohlstand erpichten Gattin eskaliert…
Das alles klingt weit interessanter und spannender als es
The Last Station letztlich zu erzählen und gestalten vermag. Und in der Tat steckt in diesen langweiligen zwei Stunden ein guter Film, der immer wieder versucht aus der lethargischen Inszenierung, der schwachen Schauspielerführung und den flachen Dialogen herauszubrechen. Die philosophischen Debatten über die Kraft der Liebe, über den Tod, über menschliche Neigungen und soziale Restriktionen etc., die in den Gesprächen der Figuren hier und dort anklingen, die Beobachtungen zum Celebrity-Kult um 1900 und zu dem Vormarsch der neuen Medienformen und der Boulevardpresse verblassen jedoch neben albernem Sex-Comedy-Unsinn wie die ständig niesende Jungfrau Valentin oder dem Gockel-Huhn-Liebesspiel zwischen Tolstoi und seiner Frau. Die Schauspieler bemühen sich redlich: Christopher Plummer zeigt sich weise und charmant, Helen Mirren dagegen wild und hysterisch, Giamatti ist wieder mal der aufgebrachte Giftzwerg vom Dienst und McAvoy glänzt hier und dort (vor allem als er Tolstoi das erste Mal mit einer Bewunderung begegnet, die seine sichtlich überforderte Figur schnell liebenswert macht), steht aber wie alle anderen Schauspieler oft etwas verloren da, ohne genau zu wissen, was die belanglose Szene gerade wieder vermitteln soll. Schlimmer noch: Anders als bei den Eheleuten Mirren und Plummer stimmt die Chemie zwischen den Liebenden McAvoy und Kerry Condon überhaupt nicht.
The Last Station will vieles auf einmal sein, bekommt aber nichts davon vernünftig hin: ein historisches Drama über das letzte Lebensjahr eines legendären Weltliteraten, eine lockerleichte Beziehungskomödie, eine ironische Initiationsgeschichte, ein berührendes Ehedrama, ein zeitgenössisches Sittengemälde usw. usf. Was er letztlich ist, ist ein mittelprächtiger Film, den man getrost ignorieren könnte, wenn er nicht dank einer möglichst intelligenten Oscar-Kampagne seines US-Verleihs es vielleicht noch zu einigen Nominierungen schaffen würde. Er wäre sicherlich nicht der erste seiner Art.