„My fellow Mutants! The real enemy is out there.“
„X-Men: Erste Entscheidung“ ist ein Film, der uns gleichzeitig etwas über die menschliche Evolution und historische Ereignisse lehren möchte und uns noch obendrein die wichtige Botschaft zu vermitteln versucht, dass es doch gar nicht so schlimm ist, individuell und irgendwie anders zu sein.
Gleich drei fromme Wünsche auf einmal? Und das in 132 Minuten? Das geht nun wirklich nicht!
Natürlich basiert das Werk zunächst auf den gleichnamigen Comichelden aus dem
Marvel-Universum, welche ja bekanntlich schon drei erfolgreiche Kinoabenteuer gemeinsam absolviert haben und nun von Regisseur Matthew Vaughn ihre Herkunftsgeschichte spendiert bekommen.
Die ersten beiden Teile der Reihe, welche von Bryan Singer („Die üblichen Verdächtigen“) inszeniert worden sind, gehören für nicht wenige Fans zu den besten Adaptionen einer Comicvorlage.
Warum das so ist? Nicht den Rezensenten fragen, der hat dafür auch keine plausible Erklärung parat.
(Eigentlich hat ja eh Ang Lee die bisher einzige, wirklich sehenswerte Umsetzung einer
Marvel-Figur betreut...)
Nun aber schnell zurück zur „Ersten Entscheidung“, deren Schöpfer unmittelbar zuvor mit „Shit-Ass“...Pardon, „
Kick-Ass“ (2010) einen Kinderfilm abgeliefert hat, der nach Meinung der hiesigen Jugendschutzbeauftragten gar nicht für Kinder geeignet ist.
Da hier, wie bereits angeführt, die Ursprünge der ganz schön begabten Männlein und Weiblein ergründet werden soll, dürfen zunächst anstelle von Patrick Stewart und Ian McKellen diesmal die deutlich jüngeren Hüpfer James McAvoy („
Der letzte König von Schottland“) und Michael Fassbender („
Inglourious Basterds“) in die Rollen der mutierten Freundfeinde Charles Xavier/Professor X und Erik Lehnsherr/Magneto schlüpfen.
So weit, so gut.
Vaughn lässt zu Beginn dann auch nicht allzu viel Zeit mit der Einführung seiner beiden Hauptfiguren verstreichen, aber erzählt zur Sicherheit doch noch einmal das, was Fans ja eh schon wissen:
Lehnsherr wird als Kind durch die Nazis von seinen Eltern getrennt und demonstriert in einer nahezu identischen Szene, wie sie zuvor auch Singer schon gezeigt hat, seinen Peinigern eine Kostprobe seiner magnetischen Kräfte.
Daraufhin wird er von dem sinistren Naziarzt Klaus Schmidt (Kevin Bacon bemüht sich erfolglos, möglichst fies und durchgeknallt zu wirken), der sich dann im Verlauf der Handlung, die in den frühen Sechzigern angesiedelt ist, Sebastian Shaw nennt, für seine Experimente missbraucht und schwört blutige Rache.
Auch Charles Xavier findet bereits im Kindesalter, wie parallel eingefügte Momente verdeutlichen, heraus, dass er offensichtlich telepathisch begabt ist und freundet sich außerdem mit der Gestaltwechslerin Raven an, die als Erwachsene von Jennifer Lawrence verkörpert wird, welche dem Rezensenten zuvor durch ihre großartige Performance in dem Drama „Winter's Bone“ fast Tränen in die Augen getrieben hat und nun ihr Talent für eine blasse Rolle wie diese verpulvert.
Da der Regisseur noch Großes vorhat und seine späteren
X-Men sogar tapfer in die Kuba-Krise eingreifen lässt, muss der Verfasser dieser Zeilen - wie der Film selbst auch - das Gaspedal ordentlich durchtreten, um seinen Text irgendwann zu einem Ende zu bringen.
Es sei übrigens bereits vorweggenommen, dass die extreme Hast in der Story dem Werk so gar nicht gut tut...
Irgendwie gerät also Xavier, der sich inzwischen einen Namen in „Genetik“ gemacht hat, an die CIA-Agentin Moira MacTaggert (Rose Byrne, „
Insidious“).
Diese ist einer kommunistischen Verschwörung rund um Sebastian Shaw, der inzwischen selbst allerhand farbenfrohe Kollegen um sich gescharrt hat, auf der Spur und stellt anschließend über fünf Ecken mit Xavier gar ein CIA-Mutanten-Team zusammen, in welchem sich neben Raven und dem auf Rache sinnenden Lehnsherr noch andere Individuen befinden:
Der eine hat zum Beispiel grosse Füße und kann flitzen wie die Vampire in den „Twilight“-Streifen, einer sieht aus wie Justin Bieber und spielt gern mit Feuer und noch einer kann schreien wie der kleine Oskar Matzerath aus Günter Grass' „Die Blechtrommel“.
So, jetzt aber wirklich
Warp 4 und weiter im Text (Apropos: Wer sich von „X-Men: Erste Entscheidung“ übrigens eine ähnlich gelungene Frischzellenkur wie vom 2009er „
Star Trek“ erwartet hat, wird schwer enttäuscht – allein die ersten fünfzehn Minuten von J.J. Abrams' Neuauflage waren besser und emotionaler als dieser gesamte Film).
Die Mutanten versammeln sich, feiern ordentlich ab und werden schließlich durch eine Auseinandersetzung mit Kevin Bacon, aka Shaw, in zwei Lager gespalten.
Die „Guten“ nehmen den Kampf auf und starten sportlich mit ihrem Jet in Richtung Kuba, wo es bald heiß hergeht.
Raketen fliegen durch die Luft und Kevin Bacon mutiert zur Atombombe, wie wir von einem besorgten Protagonisten erfahren.
Fassbender kümmert sich darum, doch dann geht wirklich alles schief: Fassbender knurrt und will jetzt richtig Stress machen, während McAvoy mit der Zunge schnalzt.
Der Rest der Geschichte ist ja wieder bekannt...
Die beiden besten Performances in dem Werk stammen übrigens von Hugh Jackman, der ein Cameo als
Wolverine gibt und in einer Bar Fassbender und McAvoy mit den Worten „Los, verpisst euch wieder!“ anschnauzt (kann man verstehen – wer will schon bei seinem Bier von solchen Vögeln belästigt werden...), und Michael Ironside als Kriegsschiff-Captain. Letzterem nimmt man seine Rolle selbstverständlich in jeder Sekunde ab – wenn jemand der Captain sein kann, dann Ironside. Zu Sicherheit trägt er aber dennoch einen Helm, auf dem nochmal der Rang schriftlich fixiert ist.
Der
Film-Dienst lobt, dass der Streifen „[den] historische[n] Hintergrund geschickt [nutzt], um über die verheerende Eigenschaft von Feindbildern und Vorurteilen zu reflektieren.“ (12/2011, Seite 40)
Dazu muss gesagt werden, dass sich der Bezug zur Historie in etwa auf eine Einblendung mit der Bemerkung
Kuba und eine Masse an Kriegsschiffen beschränkt, die unbeirrt aufeinander zusteuern.
Im schulischen Geschichtsunterricht wird „X-Men: Erste Entscheidung“ vermutlich so schnell nicht als bedeutendes Dokument auf dem Lehrplan stehen.
Auch das Evolutionsthema kann bestenfalls noch Mittelstufler faszinieren, die mit der Materie noch nicht andernweitig in Berührung gekommen sind.
Und zur alten Leier, um die
X-Men als ein Bild für die von der Gesellschaft Ausgestossenen – nun ja...
Also gut: Die Ausstattung ist klasse, die Spezialeffekte wuchtig und Michael Fassbender lässt zumindest zu Anfang eine kantige, junge Sean Connery-Bond-Version seiner Figur raushängen, die besonders effektiv in einer Gaststätten-Szene rüberkommt, wo er souverän zwei Altnazis plus Wirt aus dem Weg räumt.
Warum „X-Men: Erste Entscheidung“ dennoch eher ein schlechter, als ein guter Film geworden ist, lässt sich abschließend platzsparend zusammenfassen:
Er ist ein Comicheft, das vor den Augen der Zuschauer so schnell durchgeblättert wird, dass sich diese nicht einmal an den zugegebenermaßen schick gezeichneten Bildern erfreuen können, und dessen Sprechblasen mit unglaublich flachen Dialogen ausgefüllt sind, die Zack Snyders Pathosgemälde „
300“ glatt in die Tasche stecken. Kein Witz!
Kinder, ich glaub', ich werde alt...