Gleich vorweg: Das 3D in „Hugo Cabret“ ist absolut atemberaubend und der gelungenste Einsatz dieser Technik, den ich bisher auf der großen Leinwand erleben durfte.
Auch James Cameron zieht den Hut vor seinem Kollegen Martin Scorsese.
Wichtig ist jedoch, dass das Werk sich deshalb keinesfalls nur auf seine aufwendige visuelle Umsetzung reduzieren lässt.
Die Adaption von Brian Selznicks Buch „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ entpuppt sich zugleich als das warmherzige und fantastische Abenteuer eines aufgeweckten Waisenjungen, ähnlich einem
Oliver Twist, als auch als feurige Liebeserklärung an das Kino selbst.
Als die Brüder Lumière ihren Stummfilm „
Ankunft eines Zuges in La Ciotat“ 1895 erstmals einem Publikum vorstellten, soll dieses in Panik vor dem auf der Leinwand herannahenden Zug angeblich schlagartig den Saal verlassen haben.
Ob diese Überlieferung nun stimmt, oder nur eine spannende Ausschmückung des Ereignisses gewesen ist, sei jetzt dahingestellt.
Fest steht, dass diese Geschichte auf sehr schöne Weise die Macht der bewegten Bilder auf den Punkt bringt: Sie können in Zuschauern extrem starke und direkte Emotionen hervorrufen.
Scorsese, inzwischen 69 Jahre alt, ist ein Name, den man vermutlich zunächst eher mit rauen Arbeiten wie „Hexenkessel“ (1973), „
Taxi Driver“ (1976) oder „
Good Fellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia“ (1990) in Verbindung bringt.
Mit „Hugo Cabret“ schlägt der sympathische Italoamerikaner nun gänzlich unerwartete Töne an und beweist, dass er auch als sanfter Märchenonkel eine ausgezeichnete Figur macht und die ganz Kleinen nicht immer aus seinem Werk ausschließen muss.
Als Kinderfilm kann man dieses Stück purer Magie allerdings nicht bezeichnen – zumindest nicht nur. Falls ja, darf ich mich jetzt auch nochmal zu den winzigen Rackern zählen, habe ich doch auch mit offenem Mund staunend bis zum Ende des Abspanns auf die Projektion vor mir gestarrt.
Es ist eine einfache Geschichte, in der viel Kraft steckt - angesiedelt in den Dreißigern des vorherigen Jahrhunderts:
Die Waisenjunge Hugo Cabret (Asa Butterfield) nennt nach dem Tod seines Vaters (Jude Law, „
Sherlock Holmes“) einen Pariser Bahnhof sein Zuhause.
Alles, was ihm von seiner glücklichen Vergangenheit geblieben ist, ist eine mysteriöse, defekte Automatenfigur, die sein Vater einst aus dem Museum mitgebracht hat.
Hugos Alltag besteht darin, die Uhren im Gebäude aufzuziehen und sich vor dem hartnäckigen Inspektor („
Borat“ Sacha Baron Cohen) in Acht zu nehmen, der zusammen mit seinem Dobermann Jagd auf herumstreunende Kinder macht.
Sein Ziel ist es, sein Erbe zu reparieren und herauszufinden, welches Geheimnis das Roboter-Männchen mit dem Füllhalter in der Hand für ihn bereithält. Ist es eine letzte Botschaft seines Vaters?
Der Junge lernt die Gleichaltrige Isabelle (Chloë Grace Moretz, „
Kick-Ass“) kennen, die Tochter des grimmigen Spielzeugverkäufers (Ben Kingsley, „Schindlers Liste“).
Die Beiden freunden sich an und planen ein gemeinsames Abenteuer.
Der erste Schritt führt sie ins Kino.
Isabelle trägt eine Halskette mit einem herzförmigen Schlüssel daran. Einen solchen, der auch in das Schloss auf der Rückseite des Automaten passen würde.
Sie versuchen ihr Glück...
Auch wenn die Freundschaft der Kinder im Mittelpunkt von „Hugo Cabret“ steht, fungiert der gesamte Bahnhof als Mikrokosmos, gefüllt mit weiteren Individuen.
Der verliebte Inspektor ist ebenso ein Teil davon, wie die Blumenhändlerin Lisette (Emily Mortimer, „Lars und die Frauen“) oder der Spielzeugverkäufer, der in Wahrheit Georges Méliès heisst - Georges Méliès, der legendäre Zauberer und Filmregisseur.
Letzterer erstrahlt mit seinem früheren Schaffen die Geschichte.
Martin Scorseses große Kunst besteht darin, die ambitionierte Huldigung mit dem unterhaltsamen Märchen harmonisch in Einklang zu bringen.
„Hugo Cabret“ möchte nicht Unwissende vollends über die Anfänge des Kinos aufklären, er möchte Jung und Alt begeistern und so vielleicht dazu inspirieren, sich selbst einmal mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Wer eine nüchtern-detaillierte Aufarbeitung der Historie sucht, ist hier falsch. Der Film ist spannend, witzig und obendrein hochinteressant.
Wir treffen nicht nur einen bedeutenden Künstler, sondern wir erhalten sogar kurze Einblicke hinter die Kulissen. Werden Zeugen, wie der Zauber entsteht – und zwar in diesem speziellen Fall tatsächlich hautnah.
Verschiedene Werke, wie der eingangs erwähnte „
Ankunft eines Zuges in La Ciotat“, „Ausgerechnet Wolkenkratzer“ (1923) von Fred C. Newmeyer und Sam Taylor und vor allem die Arbeiten von Méliès (unter anderem „Die Reise zum Mond“, 1902) werden auszugsweise im Original vorgestellt und dann in späteren Szenen vereinzelt referiert.
Wenn beispielsweise ein Zug entgleist und im 3D-Verfahren bedrohlich auf die Zuschauer zurast, dann erweist Scorsese natürlich den Lumières nachträglich die Ehre und ermöglicht ihrer Eingebung eine Plastizität, von der sie ihrerzeit mit Sicherheit nicht einmal zu träumen gewagt hätten.
Das damalige Publikum wäre nach diesem Eindruck wohl nicht mehr schreiend aus der Vorführung gerannt, sondern gleich einem Herzinfarkt erlegen.
Man mag sich nun fragen, wie das alles mit der eigentlichen Geschichte rund um die Kinder zusammenpasst.
Da werden Stimmen laut, die der Verbindung nicht sonderlich viel abgewinnen können und lieber eine echte Biografie über Georges Méliès gesehen hätten.
Doch geht es in „Hugo Cabret“ nicht auch um ein Geheimnis?
Das Geheimnis der bewegten Bilder, das die Schicksale der Figuren letzten Endes feierlich in einem riesigen Saal vereinigt.
In seiner Erinnerung berichtet Hugos Vater ihm immer wieder von einem prägenden Kinobesuch: Dieser sah direkt vor seinen Augen den Mond, in den eine Kugel eingedrungen ist, auf sich zukommen.
Hugo kennt den Namen des Werkes nicht, aber findet eben diese Szene auf einer Zeichnung wieder. Ist das die Nachricht, auf die er so lange gewartet hat?
Das Bild führt ihn und seine neue Freundin immer weiter in ein magisches Reich, mitten in der tristen Realität.
Da ist Romantik, da ist Schönheit, da sind entfesselte Ideen - und da ist das Gute, das am Ende siegen wird. Das muss es.
„Hugo Cabret“ ist wie ein Traum über einen Traum, der noch nicht beendet ist.
Die Geschichte des Kinos geht weiter.
Happy endings only happen in the movies?