Den Blick nach vorne haben schon viele gewagt. Die am häufigsten gestellte Frage ist dabei wohl die, was die Zukunft für einen selbst bereithält. Eine Frage, die sich jedoch nur schwer einer zufriedenstellenden Antwort zuführen lässt. Meistens setzt die Beantwortung nämlich die Vereinheitlichung vieler kleiner Aspekte voraus, die genaugenommen jeder für sich geeignet wären, das Thema einer allumfassenden Abhandlung darzustellen. Ein wichtiger (vielleicht
der wichtigste) Aspekt ist etwa die Vergangenheit, denn ohne sie könnte das Hier und Jetzt gar nicht die Warte sein, die den Blick auf das kommende Unbekannte gewährt. Doch es wäre zugegebenermaßen zu einfach, die Behauptung aufzustellen, dass die Vergangenheit im Generellen wie Speziellen alles überschattet. Denn ob man es nun glauben mag oder nicht: manchmal wirft sogar das Jetzt einen langen Schatten und taucht – in genau entgegengesetzter Richtung – Zurückliegendes in ein anderes, mitunter diffuses Licht. Beeinflussung kennt keine Einbahnstraßen.
Zuweilen ist es eine Marginalie, ein zunächst nur unscheinbares Ereignis, das den Stein des Anstoßes markiert und den Automatismus in Gang setzt. Auch die aufstrebende Schriftstellerin Jeanne (Sophie Marceau) ahnt nicht, was für Folgen die Recherchen für ihr neues Buch nach sich ziehen werden. Die junge, verheiratete Frau und glückliche Mutter zweier Kinder leidet seit ihrer Kindheit an Teilamnesie und kennt ihre ersten acht L
ebensjahre nur aus Erzählungen und Fotos. Mit dem Buch möchte sie diesen Umstand nun aufgreifen und in gewisser Hinsicht Vergangenheitsbewältigung betreiben. Doch aus dem Plan wird pure Verzweifelung, als Jeanne plötzlich beunruhigende Veränderung in ihrem Haus wahrnimmt. Alles wirkt neu arrangiert, die junge Frau erkennt ihr eigenes Haus und – was noch schlimmer ist – zum Teil ihre Familie nicht mehr, die auf einem Videofilm gar völlig anders aussieht als in natura. Ihr Mann Teo (Andrea Di Stefano) schiebt dies zunächst auf den mit der Buchveröffentlichung einhergehenden Stress und holt eine ärztliche Meinung ein. Doch als Jeanne ein altes Familienfoto entdeckt, das scheinbar in Italien aufgenommen wurde, weiß die Leidgeplagte, die zwischenzeitlich an ihrem eigenen Verstand zweifelte, dass dort seit jeher des Rätsels Lösung auf sie gewartet hat: die Beantwortung der Frage nach dem Warum, das Geheimnis ihrer unbekannten Vergangenheit...
„DON’T LOOK BACK“ geriert sich wie eine Schachtel voller loser Puzzleteile: ob sich am Ende ein einheitliches, vollkommenes Bild vor einem darbietet, liegt einzig und allein in der Hand des findigen Puzzlers. Denn nur dem, dem es gelingt, allen vorhandenen Teilen ihren rechtmäßigen Platz im Gesamtgefüge zuzuordnen, offenbart sich schließlich auch, Teilstück für Teilstück, des Spieles respektive Rätsels Lösung. Zumindest die vermeintliche.
Marina de Vans französischer Psychotrip um eine Frau auf der Suche nach sich selbst steht damit auf den ersten Blick ganz in der Tradition von solch namhaften Vorläufern wie beispielsweise Christopher Nolans Indie-Hit „
Memento“ [2000] oder Brad Andersons
Tour de Force „The Machinist“ [2004]. Aber wie so häufig trügt der erste Schein. Denn abgesehen von der diffusen Erzählweise haben die genannten Filme – außer dass man sie vielleicht nicht mal eben zwischendurch ansehen sollte – wenig gemein. Vielmehr wird der Zuschauer im vorliegenden Fall Zeuge eines geschickt konstruierten und visuell beeindruckend umgesetzten Psycho-Dramas, dessen mystische Momente nur dazu dienen, der Gefühlswelt einer verletzten Persönlichkeit habhaft zu werden. Die innere Zerrissenheit, die Zweifel an ihrem bisherigen Leben – all dies lässt die gepeinigte Schriftstellerin plötzlich zu einer wortwörtlich anderen Person (Monica Bellucci) mutieren, und keiner scheint es zu bemerken, am allerwenigsten ihre Familie. Nur wir als Zuschauer sind stumme Zeugen der Verwandlung, in der die Belucci in der Marceau im wahrsten Sinne des Wortes aufgeht. Dr. Jekyll und Mr. Hyde grüßen freundlich.
Doch wer nun meint, lediglich eine weitere Variante des altbekannten Doppelgängermotivs serviert zu bekommen, sollte diesen Schluss lieber nicht vorschnell ziehen. Regisseurin und Co-Drehbuchautorin de Van hält die Karten nämlich bis zum Schluss geschickt verdeckt und offenbart im übrigen auch dann nicht zur Gänze die hinter dem Film liegende Intention. Und das ist ein äußerst geschickter Schachzug, ist es doch letztlich an uns, die wir zusehen, etwas halbwegs Logisches aus den zugeworfenen Lösungsansätzen zu formen.
„DON’T LOOK BACK“ lehnt sich derweil entspannt zurück, denn er will gar nicht von jedem gleich, sondern im Gegenteil von jedem
anders verstanden werden. Ein kleiner, aber feiner Unterschied, der sich gekonnt bei der dem Film zugrundeliegenden Prämisse bedient und die im Endeffekt alles entscheidende Frage stellt: Wie erscheint das Vergangene, wenn man es vom jetzigen Zeitpunkt aus individuell betrachtet? Diese bewusst auf weiterführende Informationen verzichtende Rezension schickt sich nicht an, eine definitive Antwort hierauf geben zu wollen. Diese muss jeder, sofern möglich, für sich finden und aus ihr die notwendigen Schlüsse ziehen. Wie Jeanne, die sich auf der Suche nach ihrer wahren Identität gegen Ende noch einmal verwandelt – im Namen der schlussendlichen Erkenntnis. Ich-Verlust in Reinkultur. Das mag zwar jetzt beim Lesen sowie später in der filmischen Ausgestaltung nicht immer zwingend Sinn ergeben (zumindest nicht bei der ersten Sichtung), sorgt am Ende des Films aber zumindest für einen Moment der Zufriedenheit und eine der in mehrfacher Hinsicht
schönsten symbolischen Zusammenführungen, die uns in dieser Form einfach nur das Kino mit seinen magischen Momenten bescheren kann.
„DON’T LOOK BACK“ ist, um es auf den Punkt zu bringen, ein durch und durch vielseitiger Film. Er bietet neben eindrucksvollen Bildern und durchweg soliden Schauspielleistungen von zwei der schönsten Frauen Europas, die erstmals gemeinsam vor der Kamera standen, zudem (und vor allem) verworrene Erkenntnisse am Ende einer ereignisreichen Suche. Einer Suche, die als geheimnisvolles Rätsel begann und im Grunde auch als ein solches endet. Denn Lösungsansätze hin, verworrene Hinweise her: das größte Rätsel von allen ist eben immer noch das Leben selbst. Und manchmal bleibt es uns einfach die erhofften Antworten schuldig.