von Asokan Nirmalarajah
Mit der graduellen Abwendung des ernüchterten Publikums von den phantastischen, künstlichen Genren des pathetischen Liebesmelodramas und des ekstatischen Musicals im Laufe der subversiven 60er Jahre hatte die US-Kinometropole Hollywood als vermeintliche Traumfabrik insofern ausgedient, als dass sie nunmehr ihre Träume nicht mehr pur und direkt an ihr einst williges, nun unwilliges Klientel bringen konnten, ohne dabei der affektiven Manipulation durch realitätsfernem Kitsch bezichtigt zu werden. Es sollte nicht verwundern, dass dies genau die Vorwürfe sind, die als Pluspunkte von der hierzulande wachsenden Anhängerschaft den Produkten der indischen Kinometropole Bollywood - der Name leitet sich vom Standort B(ombay in Kombination mit H)ollywood ab - angetragen werden. Denn extremer noch als einst in den Klassikern des Hollywood-Musicals vermag Bollywood (und alle weiteren anderssprachigen Kino-Standorte innerhalb Indiens, wie etwa das Telugu-sprachige Tollywood oder das Tamil-sprachige Kollywood) mit großer Simplizität und ermüdender Repetition in ihrer Erzählweise, durch erfrischend naive und furchtbar weltfremde Schwarzweißmalerei in ihrer Figurenzeichnung, und mittels effekthascherischer Verwendung von Kulissen, Kostümen und Make-up sowie komplexer Choreographien voller Musik, Tanz und Gesang uns ins
Phantastische zu entführen.
Während das westliche Publikum über die unvermittelten Gesangs- und Tanz-Ausbrüche bzw. der unfreiwillig komischen Sensibilität ihrer Filmhelden seit den 60er Jahren nur den Kopf schütteln kann, sind die indischen Mainstream-Filme exotisch genug, um sich in ihren Bildern und ihrer Musik zu verlieren, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Doch der erfahrenere Anhänger der Bollywood-Formel weiß, dass auch in diesem Genre Regisseure daran arbeiten, in dem formalen Rahmen wertvolle Filmkunst jenseits des unvermeidbaren Trash-Faktors zu schaffen. Einer dieser Filmemacher ist der Tamile Mani Ratnam, der uns zwar auch die ersehnten Träume in all ihrer audiovisuellen Pracht gibt, aber zugleich den sozialen wie politischen Realitätsbezug seiner Geschichten betont. Qualitativ weit über dem Standard der gewohnt überlangen, bis zur Unerträglichkeit verkitschten indischen Mainstream-Filme gelegen, verorten sich seine Filme irgendwo zwischen märchenhafter Abstraktion und unangenehmem Realismus, ohne an Unterhaltungswert einzubüssen.
Als mit
Bombay 1995 einer seiner besten und für die indische Filmkultur wichtigsten Filme in die Kinos kam, war Mani Ratnam bereits ein etablierter Filmemacher mit einer Reihe von Kritiker- und Kassenerfolgen. Die intimen Ehedramen
Mouna Raagam (1986) und
Roja (1992) und die Gangsterepen
Nayakan (1987) und
Thalapathi (1991) hatten – neben der wie gewohnt bereits einige Monate zuvor veröffentlichten Filmmusik von Ratnams Stammkomponist A.R. Rahman – dafür gesorgt, dass
Bombay mit großer Spannung erwartet wurde. Der Film war dann auch ein solcher Erfolg, dass er in Hindi und Telegu vertont wurde und ganz Indien und danach den internationalen Filmkunstmarkt eroberte. Dabei ist
Bombay in vielerlei Hinsicht einfach nur ein gut gemachter Kollywood-Film. Doch angesichts der geringen Zahl gelungener Arbeiten auf diesem Kinomarkt, ist Ratnams mittlerweile als Klassiker gehandeltes Werk schon etwas Besonderes. Benannt nach der wohl dichtesten besiedelten Großstadt der Welt, behandelt
Bombay die multikulturellen und multireligiösen Spannungen innerhalb der Metropole stellvertretend für ganz Indien. Zeitlich verortet in den Tagen religiös motivierter Straßenschlachten zwischen Muslimen und Hindus in der Stadt, steht – üblich in Ratnams Oeuvre – ein Liebespaar im Zentrum des Films, der als zaghafte Romanze beginnt, und in einem politischen Manifest gipfelt.
Shekhar (Arvind Samy), rebellischer Sohn einer orthodoxen Hindu-Familie, besucht seine Verwandten in seinem Heimatdorf, um seinem engstirnigen Vater Narayan (Nassar) mitzuteilen, dass er sein Journalismusstudium fortzusetzen gedenkt. Gleich zu Beginn seines Aufenthalts will es das Schicksal, dass er Shaila Bano (Manisha Koirala), die Tochter des nicht minder orthodoxen Muslimen Bashir Ahmed (Kitty), zu Gesicht bekommt. Diese Szene ist – bezeichnend für Kollywood – ebenso traumhaft wie absurd eingefangen: der heftige Wind bläst den religiös verordneten Schleier der Frau aus ihrem Gesicht, damit der Mann sie mit seinem erregten Blick fixieren kann. Es ist also Liebe auf den ersten Blick für unseren romantischen Helden, der die nächste Viertelstunde versucht, der schüchternen Schönen nachzusetzen. Als sie durch kleine Gesten und Blicke, und natürlich auch durch ein Lied, ihm zu verstehen gibt, dass auch bei ihr Interesse besteht, kommt es zum ersten Duett des Paares vor berauschender Kulisse. Doch wie schon der schwarze Schleier, der Shaila inmitten ihrer Liebeswallungen kurzzeitig daran hindert, zu ihrem Geliebten zu gelangen, steht der jeweilige Glauben der beiden und die damit verbundenen Familien und größeren Glaubensgemeinden einer Verbindung im Weg. Drum flüchten beide nach Bombay, wo Religions- und Entscheidungsfreiheit zu herrschen scheint, und die standesamtliche Hochzeit ehelichen Verkehr erlaubt. Das Ergebnis sind Zwillingsjungen, um deren religiöse Ausrichtung sich bald die angereisten Großväter Narayan und Bashir zanken. Die privaten Konflikte verblassen aber vor den religiösen Unruhen, in denen die Kinder verloren gehen und fortan verzweifelt von den Eltern gesucht werden…
Bombay, das muss gleich vorweg betont werden, ist trotz seiner Zirkulation in westlichen Arthouse-Kreisen alles andere als subtile Filmkunst. Gedreht für den indischen Massenmarkt, verfügt Ratnams Film nämlich über alle Komponenten, die das Publikum von einem Film dieser Art erwartet: grob gezeichnete Figuren, eine leicht verständliche Handlung und eine handvoll von Musical-Sequenzen, die bestimmte Gefühlsregungen oder Handlungsdetails betonen sollen. Zudem ist das Geschlechterbild jenseits jeglicher feministischer Bestrebungen klar definiert und strikt patriarchalisch: der Mann ist der aktive Eroberer, die Frau passiv und lässt sich erobern, und der Vater ist und bleibt die Autorität schlechthin. In diesem vorgegebenen formalen und ideologischen Rahmen jedoch weiß Ratnam sein Publikum dadurch mitzureißen, indem er die Pflicht bis zur Perfektion vollzieht, um dann in der Kür seinen sozialpolitischen Interessen Ausdruck zu verleihen.
Denn eigentlich müsste
Bombay mit seinen starken Genre-Schwankungen zwischen Liebesmärchen und Politdrama gänzlich ungenießbar sein. Ratnam aber schafft es zwischen hoher Emotionalität und bedächtiger Reflektion zu schalten, ohne dass ihm dabei der Zuschauer verloren geht. Stattdessen wird dieser in den ungeheuren Sog des Films gezogen, der vor allem von der hoffnungslos romantischen Musik von A.R. Rahman und der atmosphärischen Kameraarbeit des späteren Regisseurs Rajiv Menon (
Kandukondain Kandukondain, 2000) lebt. Unter den famos choreographierten Musical-Einlagen, wobei vor allem die sehnsuchtsvollen Nummern „Kannalanae“ und „Uyire Uyire“ zu erwähnen sind, fällt jedoch – wie gewohnt bei Ratnam – eine Nummer etwas aus dem Rahmen: auch wenn uns bewusst ist, dass Sex und sogar Küsse im indischen Kino verpönt sind, und sich Körperlichkeit somit nur in orgiastischen Tanzbewegungen ausdrücken darf, ist „Andha Arabik Kadalorum“, das während dem ersten ehelichen Verkehr des Paares läuft, in jeglicher Hinsicht eine unnötige Fehlkalkulation des ansonsten so souveränen Regisseurs.
Der verträumt dreinblickende, aber bodenständige Arvind Samy, den später Madhavan in Ratnams
Alai Payuthey (2000) als Ratnams bevorzugten Hauptdarsteller ablösen würde, und die unkonventionelle Schönheit Manisha Koirala geben zudem ein glaubwürdiges wie sympathisches Paar ab. Die mimische Qualität des Films aber wird von den schauspielerischen Urgewalten Kitty und Nassar als duellierende Väter garantiert, die als bekennender Hindu und bekennender Muslime respektive jeweils die Religion des anderen im Film repräsentieren. Wenn diese zwei sich bekriegenden Fraktionen im Film als Brüder zueinander finden, dann ist das zutiefst berührend. Doch wenn Ratnam am Ende des Films dazu aufruft, dass alle Hindus und Muslime ihre Differenzen über Bord werfen und als Inder sich die Hände reichen, dann kann er froh sein, dass sein Film bereits gewonnen hat, um sich ein so verkitschtes, tränenreiches Finale á la Michael Jacksons "Heal the World"-Szenario leisten zu können, denn jedem geringeren Werk hätte man eine solch naive politische Utopie nicht durchgehen lassen. Zu diesem Zeitpunkt befinden wir uns nämlich schon in einem Traum, und
Bombay ist ein bezaubernder wie erschütternder Traum.