Das italienische Genrekino kann selbst erfahrene Zuschauer immer wieder verblüffen. Sei es durch ungewohnte Qualität wie bei
Der Todesengel oder allgemeinen Wahnwitz, das schöne an diesen Streifen ist, dass man häufig immer wieder überrascht wird. Was das nun mit dem vorliegenden Film „Footprints on the Moon“ aka „Le Orme“ zu tun hat? Nun: dieser Thriller italienischer Bauart mit Florinda Bolkan in der Hauptrolle dürfte eine der ungewöhnlichsten Anfangssequenzen des Subgenres überhaupt haben. Oder kennt ihr solch einen Genrebeitrag, der mit einer Mondlandung anfängt, dann einen Astronauten zeigt, der einen bewusstlosen Kameraden durch den Sternenstaub zieht um ihn anschließend auf der Mondoberfläche zurückzulassen, und dann mit einem harten Schnitt den allseits beliebten Klaus Kinski als mad scientist zu präsentieren? Ja, mir fällt da auch nicht viel vergleichbares ein.
Dabei ist der Rest des Films bei weitem nicht so trashig, wie diese Einleitung nun auf den ersten Blick klingen mag. Florinda Bolkan als Leading Lady spielt die Übersetzerin Alice, die eben jene Anfangssequenz als wiederkehrenden Traum hat. Als sie erwacht und zur Arbeit geht, verliert sie nicht nur ihren Job, sondern stellt zu allem Überfluss auch noch fest, dass nicht etwa Dienstag, sondern tatsächlich schon Donnerstag ist. Was geschah die letzten Tage, und warum kann sie sich nicht daran erinnern? Ein einze
lner Ohrring, ein blutbeflecktes gelbes Kleid, das ihr nicht gehört, sowie die zerrissene Ansichtskarte eines Hotels führen sie auf eine türkische Insel Garma, auf der sie etliche Leute als „Nicole“ erkennen, die eben am Dienstag dort war. Alice begibt sich auf Spurensuche und wundert sich immer mehr, was es mit dem Traum von Astronauten auf sich hat. Waren diese Träume wirklich nur Eindrücke eines Films, den sie früher nie zu Ende gesehen hat?
Den Film zu beschreiben fällt wirklich sehr schwer. Regisseur Luigi Bazzoni hat hiermit vielleicht seinen besten, mit Sicherheit aber seinen ungewöhnlichsten Film vorgelegt, der selbst im gesamten Subgenre ziemlich einzigartig sein dürfte. Le Orme ist dabei kein Giallo im normalen Sinne, es gibt keinen behandschuhten Mörder der Jagd auf Alice oder andere Menschen macht. Vielmehr ist Le Orme über weite Strecken ein Mysterythriller im klassischen Sinne, der ganz wunderbar vom dreifachen Oscarpreisträger Vittorio Storaro fotografiert wurde, der übrigens mit Bazzoni auch schon an dem einzigen Giallo mit Franco Nero, „The Fifth Cord“ arbeitete, ein ebenfalls visuell grandioser Streifen. Dass der Film kein Giallo im bekannten Sinne ist, ist schade, da er oft in diesem Kontext aufgeführt wird. Eine Tatsache, die man dem Film aber schwerlich vorwerfen kann; denn seine Sache als Mysterystreifen macht er sehr gut, auch wenn sich eben gerade dadurch einige Kritikpunkte ergeben, die sich Regisseur Bazzoni und Autor Fanelli (der übrigens Mario mit Vornamen heißt, danke Weltgeist) gefallen lassen müssen.
Denn über weite Strecken hat man als Zuschauer nicht viel mehr zu tun, als den Film anzuschauen. Das mag jetzt sehr banal klingen, aber ich werde versuchen, das genauer zu erklären. Zu Beginn gibt uns der Film einige Hinweise an die Hand, die uns zum munteren Rätselraten einladen: da wäre das blutbefleckte gelbe Kleid, der einzelne Ohrring sowie die zerrissene Postkarte, nicht zu vergessen natürlich der Traum von den Astronauten. Zwar alles sehr kryptisch, aber man bekommt immerhin einige Anhaltspunkte geliefert, die man immer wieder mit dem Film in Verbindungen bringen kann; oder es zumindest versuchen. Nur nimmt einen die Erzählung nicht an die Hand, sondern lässt den Zuschauer wortwörtlich im Regen stehen. Wie schon so manch anderer Giallo gibt „Le Orme“ nach dem Beginn dem Zuschauer eigentlich überhaupt nicht die Möglichkeit, mitzuknobeln und selber auf die Lösung zu kommen. Mit kaum vorhandener Exposition wirft der Film dem Publikum zwar immer wieder Happen hin, aber man gibt schnell auf, da man das Ende nicht erraten kann und der Film in dieser Hinsicht unberechenbar ist.
Unberechenbar, ja, das ist er. Den Verlauf der Geschichte und vor allem das Ende kann der Zuschauer kaum vorausahnen. Letzteres bietet sich natürlich auch zum munteren Interpretieren an, soll hier aber natürlich nicht verraten werden. Dadurch, dass der Mysterypart so gut funktioniert ohne dass der Zuschauer sonderlich in das Geschehen eingebunden wird, entwickelt „Le Orme“ eine ganz eigene Qualität: die Atmosphäre ist wahrlich zum Schneiden dick, ohne dabei schriller und aufgeregter Grusel zu sein. Vielmehr entwickelt sich der Film zu einem unaufhaltsamen Albtraum für die Protagonisten, in den der Zuschauer hinein gezogen wird. Mithilfe des tollen Soundtracks von Nicola Piovani entwickelt die Kameraführung und Inszenierung diese traumähnliche Stimmung, die ganz hervorragend zu den Geschehnissen der Geschichte passt: das wiederkehrende Thema der Astronauten, der Gedächtnisverlust der Protagonistin, und die Ereignisse die sich zu wiederholen scheinen. Die
Fulci-erprobte Florinda Bolkan macht ihre Sache dabei sehr gut, und als besonderes Schmankerl gibt es neben der Minirolle von Klaus Kinski (der wie immer selbst in diesen paar Sekunden natürlich Vollgas gibt!) noch Nicoletta Elmi zu sehen, eine der wenigen italienischen Kinderdarstellerinnen, die nicht nur aufgrund akuter Nervigkeit im Gedächtnis bleibt.
Ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass der Name „Alice“ ein Zufall ist. Alice wird hier nicht in ein farbenfrohes Disney-Wunderland geworfen, sondern findet sich auf dieser seltsamen Insel wieder, auf der sie jeder zu kennen scheint. Gerade weil wir den ganzen Film über der Perspektive von Hauptdarstellerin Florinda Bolkan folgen, zieht es uns hinein in diesen Strom von Unsicherheit, Gedächtnislücken und Déjà-Vu Erlebnissen, dem wir uns nur schwer zu entziehen vermögen. Lässt man „Le Orme“ erstmal auf sich wirken und gibt sich dem Streifen hin, dann ist er wirklich eine ganz besondere Erfahrung. Man findet sich im positiven Sinne in einem Zustand totaler Desorientierung wieder, ähnlich wie etwa bei Kubricks
Shining. Und ich freue mich jetzt schon auf die zweite Sichtung, wo ich die Puzzlestücke mit entsprechendem Vorwissen weiter in Verbindung bringen kann!
Mit dem traumwandlerischen Tempo ist „Footprints on the Moon“ also kein einfacher Film, gerade da er viele Fragen offen lässt und dem Zuschauer nicht in die Hände spielt. Allerdings ist er gerade deswegen auch besonders sehenswert, mal wieder als unerwartet hohe Qualität im italienischen Subgenre zu identifizieren. Diese Geschichte in naher Zukunft samt sterilen Gebäuden und scheinbar entvölkerten Städten vermag mit enorm dichter Atmosphäre zu fesseln, ist dabei aber nichts für Einsteiger. Trotzdem auf jeden Fall ein ganz besonderer Tipp!