Sabriye Tenberken ist seit ihrem zwölften Lebensjahr blind doch gab ihr Leben nie auf. 1998 gründete sie zusammen mit Paul Kronenberg "Braille without Borders", eine Blindenschule in Lhasa, Tibet. Erik Weihenmayer erblindete mit 13 Jahren vollständig und ist der erste blinde Mensch, der unter anderem den Mount Everest bestieg. Die Wege der beiden kreuzen sich, als Sabriye mit mehreren Schülern ihrer Schule einen Berg erklimmen will. Das professionelle Team um Weihenmayer wählt sechs Schüler aus, und dies ist die Geschichte dieses Abenteuers...
Klingt unglaublich, und es ist wohl auch für den unbedarften Zuschauer. Die Dokumentarfilmerin Lucy Walker, selbst auf einem Auge blind, begleitet in ihrem Film Blindsight das Team und die Schülerinnen und Schüler bei den Vorbereitungen ihrer Expedition und der eigentlichen Durchführung, aber sie blickt auch in die Vergangenheit der Jugendlichen, sucht nach ihren Ursprüngen und stellt die Familien vor. Die Kinder haben unterschiedlichste Biographien erlebt, doch allen ist eines gemein: trotz der widrigen Umstände ihres Lebens, ihrer Blindheit, den ärmlichen Verhältnissen der Familien und nicht zuletzt der tibetischen Gesellschaft haben sie sich ihren Stolz, ihre Würde und ihre Kraft bewahrt.
Und dies ist umso verwunderlicher, als das man Einblicke in Tibet bekommt, die jenseits von dem klischeebehafteten Bild der friedlichen Buddhisten ist. Durch die Lehre der Reinkarnation und des Karmas wird die "S
chuld" an ihrer Blindheit bei den Kindern gesucht, da diese sich in dem vorhergehenden Leben mit Schuld beladen haben. Daher ist es auch nur normal, dass ihre Familien ausgegrenzt werden, sie als Taugenichtse gelten, und ein Mädchen von ihrer Tante gesagt bekommt, es wäre besser wenn sie tot wäre.
Dieser Lebenswille ist wahrlich bewundernswert. Diese Kinder sind nicht mit Kindern in unserer Gesellschaft zu vergleichen, denen schon seit vielen Jahrzehnten weder das Recht auf Schule, noch die Bildungsfähigkeit abgesprochen wird. Die praktisch schon vorgeburtlich medizinisch umsorgt werden. Die trotz bürokratischer, finanzieller und pädagogischer Hürden eine Schule besuchen dürfen, die zumindest besser als in den meisten anderen Ländern dieser Welt ist, trotz aller Probleme des deutschen (Sonder-)Schulwesens. Die auch in einer Gesellschaft aufwachsen, die nicht mehr per se defizitorientiert ist.
Denn das ist die tibetische Gesellschaft (vor einigen Jahren) laut Frau Tenberken mehr als. Blinde Menschen werden dort nicht nur beschimpft, die landläufige Meinung sieht noch schlimmer aus: blinde Menschen sind faul, sie schlafen den ganzen Tag und essen sonst nur. Natürlich muss man auch bedenken, dass in Tibet die Mehrzahl der Leute in abgelegensten Gegenden in, für unsere Verhältnisse, ärmlichsten Umständen leben. Und doch bekommen wir eine Familie zu Gesicht, bei der jedes Mitglied erblindet ist, und auch diese meistern ihr Leben - selbst in Tibet.
Durch die Schule von Frau Tenberken erhalten die Kinder die Möglichkeit, der Gesellschaft zu zeigen, dass auch blinde Menschen zu Leistung und zu einem selbstständigen Leben fähig sind. Inzwischen können viele Kinder, die die Schule besuchen, nicht nur Lesen und Schreiben - was viele Tibeter für unmöglich gehalten haben - sondern sprechen teilweise drei Sprachen und führen ein selbstständiges Leben. Durch den Kontakt mit Erik Weihenmayer beginnt man, über eine Expedition ins Himalaya nachzudenken, doch auch hier gilt genauso wie für viele Menschen ohne Sinnesbehinderung: Der Weg ist das Ziel. Denn die Besteigung nimmt durchaus eine überraschende Wendung.
Lucy Walker fängt diese Reise in grandiosen Bildern der wilden Natur des Hochgebirges ein, doch vergisst nicht ihre eigentlichen Hauptdarsteller, die Kinder und das Team der Erwachsenen. Die Schüler sollen nicht etwa von den Erwachsenen, sehenden Bergsteigern an der Hand genommen werden, sondern möglichst selbstständig den Berg erklimmen - ein wichtiger Faktor, gerade weil Walker auch die inneren Konflikte des Teams nicht unerwähnt lässt. Sabriye Tenberken stellt sich irgendwann explizit die Frage, ob man dieses Unternehmen für die Kinder durchzieht, oder diese nicht zum Mittel zum Zweck degradiert wurden, weil sich die Erwachsenen etwas beweisen wollen. Eine wichtige Frage, die man sich lange Zeit in dem Film stellen kann, doch auch mehrere Teammitglieder refkletieren darüber, so dass gegen Ende zwei Lager deutlich werden: die Bergsteiger, die um fast jeden Preis auf den Gipfel wollen, und die Kinder mit ihren Begleitern, für die nicht unbedingt der Gipfel die Krönung ist. Doch auch Frau Walker vernachlässigt in der zweiten Hälfte des Films die Schülerinnen und Schüler, sondern konzentriert sich zu sehr auf die Erwachsenen - das gibt kleineren Punktabzug.
Darüberhinaus werden zwar oft Konflikte im Team gezeigt, allerdings gibt es wenig Einleitungen und Abschlüsse dabei, so dass man sich manchmal den Zusammenhang selbst herstellen muss.
Dafür besitzt der Film andere Stärken: da wäre die berührende Geschichte von Tashi, der zum ersten Mal seit vielen Jahren seine Familie wiedersieht. Doch auch wenn dieses dramatische Material, Tashi hatte sich das Wiedersehen ganz anders vorgestellt, prädestiniert dafür wäre, auf die Tränendrüse zu drücken, bekommt Lucy Walker die Kurve und schlachtet diese persönliche Tragödie nicht aus. Auch die klischeehaften "Super-Behinderten" verbleiben in der Klischeekiste. Stattdessen bekommen wir lebensfrohe Schüler zu sehen, die nicht ohne Schwächen sind, aber ihre Stärken haben - eben wie alle Kinder.
Ganz groß hervorheben sollte man auch noch, dass Lucy Walker nicht auf falsches Mitgefühl und großen Weltschmerz setzt, sich auch nie auf die Defizite der Kinder fixiert, was viele andere Filme trotz anderer Intention häufig machen. Somit ist Blindsight ein Film der Kraft und des Willens, den diese Kinder haben, kein Film über ihre Schwächen und ihre Makel.
Und mit dem versöhnlichen Ende voller Hoffnung, Chancen und Zukunftsperspektiven für diese jungen Leute ist Blindsight ein Film der Augen öffnet, für Menschen, die es schwerer haben, leichter haben, anders haben. Eben einfach gleich verschieden und verschieden gleich sind.