Der esoterisch angehauchte Mitteleuropäer hat von Tibet in der Regel ein verklärtes, romantisiertes Traumbild: Unter dem Joch der chinesischen Besatzung versuchen die Tibeter ihre traditionelle Identität zu wahren, die von außen oft als überhöht spirituell gesehen wird. Prominente wie Richard Gere setzen sich seit vielen Jahren für die tibetische Unabhängigkeit ein, so dass Tibet auf die Opferrolle reduziert bleibt – die komplexen Verflechtungen, die sich durch die Historie Tibets und Chinas ziehen, bleiben zumeist auf der Strecke. Mit seinem ersten Kinofilm addiert der Schweizer Luc Schaedler zu dieser einseitig verlaufenden Diskussion entscheidende zeitgemäße Gedanken hinzu und zeigt in ANGRY MONK ein wesentlich realistischeres Tibet-Bild. Schaedler begibt sich auf die Spuren des Mönches Gendun Choeppel, der 1951 im Alter von nur 48 Jahren verstarb. Choeppel gilt heute, nachdem sein Werk jahrzehntelang in Vergessenheit geraten war, als einer der wichtigsten Denker des modernen Tibets. Seine kritischen Schriften zum Buddhismus und zur tibetanischen Geschichte polarisieren Fachleute und Geistliche bis heute, seine Gedichte werden als poetische Meisterwerke verehrt. Als reinkarnierter Lama verbrachte Choeppel sein Leben beinahe komplett im Kloster, bevor er sich auf ausgedehnte Reisen durch Indien begab und sich vom Leben im Kloster später distanzierte – seinen Glauben verlor der progressive Denker allerdings niemals.
Luc Schaedler interessiert
sich nicht nur für die ereignisreiche und bewegte Vita eines Querdenkers sondern zeigt dessen Bemühungen und Enttäuschungen als exemplarischen Konflikt für Tibet. Zu Wort kommen dabei viele junge Intellektuelle Tibeter, die Choeppel als wichtigen Einfluss begreifen und sich genervt zeigen vom mystifizierten Tibet-Bild, das in ihren Augen ein totes Tibet feiert. Der Film weist auf den grundsätzlichen Zwiespalt einer Nation hin, in der Politik und Religion untrennbar verschweißt sind, gigantische Reichtümer und Ländereien in der Hand mächtiger Kloster sind und in der sämtliche Neuerungen als Teufelswerk angesehen werden. Seit mehr als hundert Jahren scheitern reformistische Bemühungen an der Starrsinnigkeit konservativer Kräfte, die schon Gendun Choeppel das Leben schwer machten: dieser konnte mit dem asketischen Lebensentwurf eines buddhistischen Mönches nicht viel anfangen und frönte seiner Liebe zu Frauen, zum Alkohol und Tabak. Während sich von Choeppel selbst nur wenige Fotografien erhalten haben und auch ein großer Teil seines künstlerischen Werkes (der vielseitig begabte Mönch war auch als Maler sehr produktiv) die chinesische Okkupation nicht überstanden hat, muss Luc Schaedler fast aus dem Nichts schöpfen, um einer praktisch gesichtslosen historischen Figur gerecht zu werden. Dies gelingt ihm aufgrund umfassender Recherche und leidenschaftlicher Hingabe zum Thema bestens. Sorgfältig ausgewähltes Archivmaterial lässt die tibetische Geschichte lebendig werden, ein eloquenter Off-Kommentar von Schaedler selbst unterstreicht die persönliche Note, hoch interessante Interviews mit Zeitzeugen (die teilweise Choeppel noch selbst kannten) verdichten den Bezug zur aktuellen Lage Tibets.
Als äußere Form wählte Luc Schaedler das Road Movie. Sein Film, dessen eigentlicher Protagonist zwangsläufig unsichtbar bleibt, folgt den Spuren Choeppels und zeichnet einige seiner markanten Reisestationen nach. Auf diese Weise stellt ANGRY MONK das alte und das moderne Tibet nebeneinander und lässt viel Raum, für die klugen Reflektionen der zahlreichen Interview-Partner Schaedlers. Dieser drehte mit einem winzigen Team und einer herkömmlichen, eher unauffälligen Kamera um das Filmverbot zu umgehen, das eine solch kritische Betrachtung automatisch mit sich gebracht hätte. Auf diese Weise entsteht ein ungeschliffener Look, der für Postkarten-Ästhetik keine Verwendung findet und ein ungeschminktes Bild vermittelt von einem exotischen Land. Die Fülle an Informationen, die dem Zuschauer vermittelt werden, wird abgemildert durch ruhige Momente, in denen der Film Eindrücke von kargen Landschaften sammelt und dem Reisebus geduldig dabei zusieht, wie er sich über die scheinbar endlosen Landstraßen bewegt. Rein visuell ist ANGRY MONK vergleichbaren Fernsehproduktionen kaum überlegen, überzeugt aber mit einer durchdachten und subversiven Konzeption und ist darüber hinaus viel zu ehrgeizig inszeniert um mit einer bloßen Auftragsarbeit verwechselt zu werden. Der relativ trockene Erzählstil erweist sich in diesem Fall als der Preis für eine engagierte und ernst gemeinte Herangehensweise, die den Zuschauer nicht mit Klischeedenken bevormunden sondern in einen Dialog verwickeln will.
Es sollte Luc Schaedler hoch angerechnet werden, das er eigene Sichtweisen nie in den Vordergrund drängt und seinen Protagonisten nicht auf die gleiche Weise stilisiert, wie es bei Tibet eben immer wieder der Fall ist. ANGRY MONK bricht eingefahrene Trugbilder auf, ohne dabei den Anspruch zu erheben, in irgendeiner Weise das letzte Wort zu sprechen.