Das Märchen vom Rezensenten und dem unehrlichen Film
Es war einmal ein französischer Spielfilm mit dem Namen „Promenons-nous dans les bois“, der wollte auch internationale Erfolge feiern und nannte sich deshalb „Deep In The Woods“.
Doch dann geschah etwas: Der gemeine Pöbel mochte den stolzen Film nicht und beschmiss ihn nach seinen Präsentationen mit allerlei abwertenden Worten.
Aber da war noch ein furchtloser aber bettelarmer Rezensent, der sich dem Film trotz der harschen Bestrafung durch seine Mitmenschen ohne große Vorbehalte annehmen und ihm eine faire Chance geben wollte.
Da wischte sich der Film, dessen Schöpfer Lionel Delplanque zuvor nur Werke kürzerer Natur hervorgebracht hat, eine Träne aus dem Augenwinkel, hakte sich beim Rezensenten ein und sagte selbstbewusst: „Weisst du, mich sehen alle nur als blöde Horrorgeschichte – dabei bin ich viel mehr als das!“
Und darauf erzählte er seinem aufmerksamen Betrachter eine Geschichte über eine junge Theatergruppe, die sich auf den Weg durch den dunklen Wald zu dem Schloss des vermögenden, im Rollstuhl sitzenden Baron de Fersen macht, der von François Berléand gespielt wird.
Der Sohn des Schlossherrn, der kleine Nicolas, hat Geburtstag und die angereisten Fünf sollen ihm zur Feier des Tages eine Privat-Aufführung vom
Märchen des Wolfes und den sieben jungen Geißlein zum Besten geben.
Doch Nicolas ist ein verstörter Knabe, der vor einiger Zeit mit ansehen musste, wie seine Mutter nach dem Vorlesen eben jener Grimm-Geschichte von einer unheimlichen Gestalt ermordet worden ist. Seitdem sticht er sich auch mal beim Essen, ohne eine Miene zu verziehen, mit der Gabel in die Hand.
Sein Vater und dessen Bediensteter Stéphane sind allerdings auch nicht ganz Ohne und jagen den wohlgestalteten Frauen und Männern spätestens seit der Bekanntgabe eines umherstreifenden Mörders eine gehörige Gänsehaut ein.
Zum Glück ist bald Schlafenszeit für Junior und Senior de Fersen, so dass die junge Gruppe die üppigen Räumlichkeiten für erotische Spielchen und Pott-Rauchen nutzen kann.
Jetzt schaute der Film den Rezensenten mit seinem verträumten Arthouse-Blick an und fragte ihn, wie ihm denn die Gruselgeschichte bisher gefalle.
„Nun“, sagte dieser, zunächst von den prachtvollen Bildern und der mysteriösen Atmosphäre beeindruckt, „was ich jetzt gesehen habe, ist schick umgesetzt und schön stimmungsvoll. Ich bin gespannt, wie es weitergeht – das Alles wirkt ja zunächst auch gar nicht so plump, wie das die gemeinen Leute sagen. Ist wie ein Märchen für Erwachsene.“
Der Film bejahte das Ausgesprochene glücklich und fügte an, dass in gewisser Weise die besten Horrorstoffe auch Märchen sind.
Der Rezensent nickte zustimmend und bat um das Fortfahren der Geschichte.
Ins Schloss zurückversetzt, wurde ihm dann aber langsam bewusst, weshalb der Film zuvor so scharf kritisiert worden ist.
Auf einmal stellt sich den jungen Freunden dort ein Kommissar vor und der Hausherr wird im Bett vom bösen Wolf höchstpersönlich überrascht.
„Siehst du, ich habe dir ja gesagt, dass es im Grunde ein Märchen ist. Und jetzt habe ich sogar noch eine echte Märchengestalt für dich“, sagte der Film. Und an nichts Gutes dachte ab diesem Moment der Rezensent. Aber er harrte aus und wartete auf die Dinge, die da noch kommen sollen.
Als die in diesem Fall nur fünf Geißlein nun völlig planlos in den furchtbar dunklen Wald hinaus spazieren und Dinge miteinander tun, die man in Märchen eigentlich nicht tun würde, wurde der Rezensent ungeduldig. „Lieber Film, was genau machst du da gerade mit mir?“, versuchte er einen ersten Einwand.
Der Film rümpfte gekränkt die Nase und ahnte, was bald folgen würde. Trotzdem erzählte er ohne Unterbrechung weiter - nun von einer Gestalt, die in einem Wolfskostüm Jagd auf die unartigen Helden macht.
Und jetzt kam sich der Rezensent plötzlich gar nicht mehr wie in einem französischen Märchen vor – er fühlte sich in ein fernes Land versetzt, in dem einst Indianer lebten, bis schließlich Spanier und andere Völker kamen, um ihnen als neue Bewohner
McDonalds-Ketten und
Post-„Scream“-Slasher-Streifen zu bescheren. Denn so wie einer der zuletzt Genannten mutete schließlich auch der ganz und gar veränderte Film an. Die traumhafte Atmosphäre schien verflogen, man verstand nun die aufgebrachten Reaktionen des Pöbels.
Wütend über die erbrachte Kritik, ließ der Film schließlich immer mehr Geißlein auf bösartigste Art dem Wolf zum Opfer fallen. Einem wird sogar Säure in sein Gesicht gekippt, bevor es in eine ungünstig platzierte Bärenfalle tappt.
Der Rezensent musste aufgrund des gesehenen Blödsinns laut lachen.
Darauf fuhr der Film ihn an, was daran so lustig sei und ob er seinen künstlerischen Ambitionen nicht den gebührenden Respekt zollen könne.
Jetzt zückte der Rezensent die mächtigsten Waffen, die er bei sich trug, um sich dem aufmüpfig werdenden Machwerk zu erwehren: Seine Schreibfeder und ein Blatt Papier. Und so schrieb er akribisch das nieder, was ihn so sehr an dem Film störte – natürlich sollte dabei nicht vergessen werden, was er zu Anfang daran mochte.
Während der Film seine wenig überraschende Auflösung zum Besten gab, fragte er, während er auf den Zettel zu luchsen versuchte, was darauf eigentlich besonders negativ hervorgehoben sei.
„Dass du nicht ehrlich zu deinen Zuschauern gewesen bist“, erwiderte sein Betrachter, „Dass du eigentlich nur schnöde, bestenfalls durchschnittliche, Popkultur bist, aber dem Publikum lange vormachst, etwas Besonderes oder Anderes zu sein. Du schaust ganz nett aus, ja. Aber du hättest lieber deinen eigenen Weg zu Ende gehen oder zumindest eine harmonische Geschichte erzählen sollen, anstatt aus heiterem Himmel in Richtung
amerikanischer Vorbilder zu schielen. Auf diese Art wirkt Alles wie ein Haufen wirrer Versatzstücke, man wird aus dir einfach nicht recht schlau.“
Der Rezensent schloss sich schließlich nach selbstständiger Begutachtung den übrigen kritischen Stimmen an. Und der Film verstand sein Schicksal und verschwand still und leise – und wenn er nicht verrottet ist, gammelt er noch immer in den hinteren Ecken der Videotheken vor sich hin…
Ende