Minimalstbewegungen bestimmen die ersten Minuten von Lars von Triers „Melancholia“: In der sich beinahe über 10 Minuten erstreckenden Ouvertüre schreiten wir unter dem Einfluss einer extremen Zeitlupe durch surreale Tableaus, die sich schnell als prophetische (Alp-)Träume von Justine (Kirsten Dunst, „
Spider-Man“-Trilogie) verifizieren, in denen die junge Frau ihren Körper über einen von Seerosen gesäumten Bauchlauf treiben lässt, um dann durch riesige Spinnweben zu waten, während simultan dazu aussagekräftig ein edles Ross in sich zusammensackt und die Vögel tot vom Himmel stürzen – Untermalt vom Präludium aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Kaum verwunderlich, wenn angesichts dieser so majestätischen wie hochtrabenden Illustrationen auch mal schnell die Pathos-Alarmglocken im Kopf des Zuschauers losschrillen möchten. „Melancholia“ aber beruft sich nicht auf den salbungsvollen Gestus, den die ersten Minuten des Filmes verströmen könnten, der aber auch im Handumdrehen zu widerlegen ist, weil wir uns hier inmitten einer abstrakten Weissagung Justines befinden – Und welche übersinnliche Eingebung gründet schon auf einem konkreten Realitätsanspruch?
Es folgt eine Zäsur, die mit dem den Bildschirm einnehmenden Schriftzug „Justine“ eingeleitet wird und damit die erste Perspektive von „Melancholia“ präsentiert: Justine nämlich befindet sich mit ihrem Gatte
n Michael (Alexander Skarsgard, „Disconnect“) auf der Anreise zu ihrer Hochzeitsfeier, die von ihrer Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg, „
Antichrist“) und ihrem Ehemann John (Kiefer Sutherland, „
Mirrors“) auf deren hochherrschaftlichen Anwesen zelebriert werden soll. Auf dem Weg zur mit Gästen geradezu überladenen Veranstaltung aber taucht schon das erste Hindernis auf, welches „Melancholia“ dramaturgisch beinahe eine graduelle Marschroute in die gesellschaftliche wie persönliche Apokalypse attestieren könnte: Die Limousine schafft es partout nicht, die schmale Serpentine entlangzukommen, jedes Wendemanöver erweist sich als unnötig, was das noch verspielte Brautpaar dazu zwingt, die Strecke zum Grundstück von Claire und John zu Fuß zurückzulegen. Auf der Feierlichkeit offenbart sich eine leicht angespannte Claire, die die Zeremonie pedantisch durchorganisiert hat, während der beleidigte Hochzeitsplaner (Udo Kier, „
Iron Sky“) Justine keines Blickes mehr würdigt.
Der ungefähr 30-minütige Abschnitt auf der Hochzeitsfeier erinnert nicht unfreiwillig an Thomas Vinterbergs Meisterwerk „Das Fest“, greift Lars von Trier hier doch nicht zuletzt auf die Dogma-95-Ästhetik zurück, an der er nicht nur sein eigenes Können geschult hat, sondern die er seiner Zeit gleichwohl (mit-)initiierte. Darüber hinaus verfügt „Melancholia“ in diesem Kapitel auch über eine ungemein satirische Tonalität, die sich immer wieder in den exzentrischen Auftritten des kunterbunten Gastspiels sowie dem Diskurs über die Nutzlosigkeit festgefahrener Rituale entlädt. Es dauert aber nicht lange, dann hat sich das mit dem Schmunzeln in „Melancholia“ erledigt und das sonnige Lächeln verfliegt aus den Gesichtszügen der frischvermählten Justine: Ihre Depression macht sich wieder bemerkbar, nachdem sie sich erneut in eine Rolle gedrängt fühlt. Ihrem Arbeitgeber Jack (Stellan Skarsgard, „
Verblendung“) und ihrem Ehemann stößt sie gnadenlos vor den Kopf, um sich von ihrer Mutter (Charlotte Rampling, „Alles, was wir geben mussten“) wieder einmal anhören zu müssen, wie verachtenswert die Institution der Ehe doch in Wahrheit war, ist und immer bleiben wird.
Doch am Firmament lauert etwas Unheilvolles; ein roter Stern namens Melancholia, der aufbricht, um die Kollision mit Mutter Erde zu suchen, auch wenn Wissenschaftler und Astronomen verkünden, dass der „Totentanz“, der sich auf der von Melancholia eingenommenen Flugbahn abspielt, keine verheerenden Folgen für die Menschheit nach sich ziehen wird – Nicht einmal berühren wird dieser ominöse Himmelskörper den blauen Planeten! Justine aber ist sich sicher: Das Ende wird kommen, und wer deswegen in tiefe Trauer verfällt, der weint einem Leben nach, welches ohnehin nur von fehlgeleiteten Ansprüchen und einem ausgehöhlten Wertesystem dirigiert wurde. Justine ist diejenige, die erkannt hat, dass eine Existenz, die ausschließlich auf der Pflege des sozialen Status, auf Besitz und Materialismus basiert, keine langfristige Bedeutung haben kann. Sie hängt nicht an ihrem irdischen Dasein, und wie Kristen Dunst, die in Cannes für ihre Performance ausgezeichnet wurde, diese Lebensmüdigkeit ausspielt, ist schon beeindruckend. Tatsächlich beschleicht den Zuschauer fortwährend das Gefühl, Kirsten Dunst würde sich in ihrem pointierten Spiel langsam selbst ausradieren, bis nur noch Konturen vorhanden scheinen.
Claire (ihr Name wird sich auch noch über den Bildschirm dehnen) ist indes der Gegenentwurf zu ihrer Schwester, sie hängt an ihrem Leben, hat mit Mann und Kind durchaus etwas zu verlieren und verfällt in paralysierende Angstzustände, die der im Treibsand ihrer Depressionen gefangenen Justine ebenso konträr gegenüber stehen: Unkontrollierte Heulkrämpfe hier und das regungslose Auflösen dort. Ohnmachtsgefühle, Erwartungsdruck und Kontrollzwänge munden in Überforderung, Weltschmerz und stiller Akzeptanz. Lars von Trier erzählt „Melancholia“ über den kontemplativen Brückenschlag zweier Schwestern und dem dazugehörigen individuellen Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit. Wenn sich Justine im letzten Akt des Filmes im blauen Schein des Todes sonnt und eine gewisse Seelenruhe im Angesicht ihres Ablebens entdeckt, dann wird deutlich, wie inbrünstig der dänische Auteur seine Protagonistin anbetet – er liebt sie gewissermaßen zu Tode, um sie (sinnbildlich für das Schaffen des Filmemachers) auch im bedrängenden Augenblick des Untergangs voller mystifizierter Sanftmut erstrahlen zu lassen. Die introspektive Beleuchtung Justines ist gekoppelt an einer künstlerischen (Selbst-)Spiegelung und kein Politiker muss den globalen Notstand ausrufen; Lars von Triers Weltuntergang genügt schon ein gebogenes Stück Draht.
Cover & Szenenbilder: © 2011 Concorde Filmverleih.