von Asokan Nirmalarajah
Jetzt wird es persönlich: Ich liebe Musicals. Würde man mir die Pistole auf die Brust setzen und verlangen, mich für ein einziges Filmgenre zu entscheiden, dann würde ich mich nicht etwa für den Gangsterfilm – mein Lieblingsfilm ist immerhin
The Godfather (1972) – entscheiden, sondern für das Filmmusical in (fast) all seinen regionalen Ausformungen. Vom klassischen Hollywood-Musical der 30er bis 60er Jahre, den post-klassischen Wiederbelebungsversuchen der 70er Jahre bis heute, vom musiklastigen indischen Film (Bollywood, Kollywood, Tollywood usw.) bis zum deutschen Schlagerfi… – na ja, wir wollen es dann doch nicht übertreiben, schließlich befinden wir uns nicht in einem Musical –, die filmische Montage von Musik, Tanz und Schauspiel kann mich in der Regel immer begeistern. Diese Begeisterung teilt auch Selma Ježková, die von der isländischen Sängerin Björk verkörperte Protagonistin von Lars von Triers
Dancer in the Dark (2000). Sie ist die im Titel genannte ‚Tänzerin im Dunkel’, verliert sie doch im Laufe des Films nicht nur das Augenlicht, sondern allmählich auch den Bezug zur Realität. Aber wer mag ihr das verdenken, angesichts der gnadenlosen Schicksalsschläge, die über sie hier hereinbrechen: So mag sie sich zwar als Hauptfigur eines Musicals phantasieren, doch
der Regisseur ihres Films ist niemand geringeres als
das enfant terrible des modernen europäischen Kunstkinos. Das Resultat ist eine unangenehme wie faszinierende Kollision von Filmwelten (das Hollywood-Musical reinterpretiert vom radikalsten Arthouse-Filmemacher unserer Zeit!), die bei der Premiere des Films auf dem Filmfestival von Cannes, wo von Trier die Goldene Palme gewann, auf ebensoviel Unverständnis wie Begeisterung stieß. Ganz so wie es dieses Jahr mit von Triers
Antichrist (2009) der Fall war.
Dancer in the Dark spielt, obwohl aufgrund der Flugangst vom selbsterklärten Amerikafeind von Trier in Schweden gedreht, in einer amerikanischen Kleinstadt im Bundesstaat Washington. Es ist das Jahr 1964 und die junge tschechische Immigrantin Selma lebt mit ihrem Sohn Gene in einem Trailer auf dem Grundstück eines mit ihr befreundeten Ehepaares, dem Polizisten Bill Houston (David Morse) und seiner Ehefrau Linda (Cara Seymour). Sie arbeitet in einer Fabrik mit ihrer besten Freundin Kathy (Catherine Deneuve), spielt mit Begeisterung in einer lokalen Theatergruppe mit, liebt es, sich im Kino Musicals anzuschauen und spart gewissenhaft für eine Augenoperation, die ihrem Sohn helfen soll. Hat Gene doch denselben Augenschaden geerbt, der ihr nach und nach das Augenlicht raubt. Als hätte sie nicht schon genug damit zu tun, ihre zunehmende Erblindung vor ihrem Chef und ihrem Theaterregisseur geheim zu halten, und kleine Arbeiten zu verrichten, um noch mehr Geld zu sparen, wird sie auch von dem schüchternen, aber anhänglichen Jeff (Peter Stormare) umgarnt. Als ihr Bill beichtet, dass er den verschwenderischen Lebensstil seiner Frau nicht mehr mit seinem geerbten Vermögen finanzieren kann und sie bedrängt, ihm das mit Mühe und Not gesparte Geld für die Operation zu überlassen, kommt es zur Katastrophe, immer wieder unterbrochen mit Selmas immer phantastischeren Realitätsflüchten in Gesang-und-Tanz-Sequenzen…
Wer die früheren Filme von Triers gesehen hat, vor allem
Breaking the Waves (1996) und
Idioten (1998), die nach Aussage des Regisseurs mit
Dancer in the Dark die „Golden Heart“-Trilogie bilden, in der stets eine junge, naive Frau im Zentrum steht, die zu immer drastischeren Handlungen und Opfergaben bereit ist, ohne sich über die Konsequenzen für ihre eigene Person bewusst zu sein, der weiß, dass man jede Szene der Freude und Ausgeglichenheit, die sich in der ersten Hälfte des Films findet, auskosten sollte. Denn die zweite Hälfte des Films führt unweigerlich in eine Tragödie, deren Grad an Verzweiflung nahezu sardonische Züge auf Seiten des Erzählers annehmen kann. Von Trier war schließlich nie einfach nur ein Geschichtenerzähler, sondern immer auch ein Provokateur, der in allen drei Melodramen seiner „Golden Heart“-Trilogie das Publikum zunächst dazu bringt, sich so weit wie möglich mit der Protagonistin zu sympathisieren, um dann seine Hauptfigur und das mitfühlende Publikum durch eine emotional unangenehme, formal radikale Märtyrergeschichte zu schicken. Die recht berechenbare Handlung von
Dancer in the Dark ist dabei nicht halb so originell wie bei dem noch durch und durch dem Dogma95-Manifest (u.a. keine künstliche Beleuchtung, keine Spezialeffekte, nur Handkamera) folgenden Film
Idioten, und auch die Figuren des Films sind mehr clever gebrochene amerikanische Archetypen als dreidimensionale, glaubwürdige Personen, in die man sich einfühlen kann. Vom klugen Dorfdeppen (Stormare) über den unaufrichtigen Sheriff (Morse) bis hin zu der irrational aufopferungsvollen Mutter auf der Suche nach dem amerikanischen Traum (Björk). Dass man es trotzdem tut liegt nicht nur an der durchweg starken Besetzung, sondern auch an der Inszenierung, die in sehr verwackelten, grobkörnigen Bildern sich sehr nah an den Gesichtern der Figuren aufhält. Besonders Björk, die in Interviews wiederholt darauf beharrt hat, dass sie in ihrer bislang einzigen Hauptrolle nicht schauspielern, sondern die Rolle "fühlen" würde, füllt die Leinwand über lange Strecken mit ihrem mal emotional aufgewühlten, mal vor Verzweiflung gelähmten und dann wieder verträumten Gesicht.
Die Analogie zu dem anderen großen Film über eine Frau, die die gesamte Laufzeit hindurch in einer unbarmherzigen Nahaufnahme leidet, liegt dabei nicht allzu fern: In dem Stummfilm
La Passion de Jeanne d’Arc (1928) des von von Trier bewunderten dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer gab Maria Falconetti eine der bewegendsten, eindringlichsten und unangenehmsten Vorstellungen der Filmgeschichte. Von Trier vermengt seine gradlinig erzählte Märtyreringeschichte allerdings auch mit ebenso mitreißenden wie angesichts des deprimierenden narrativen Kontextes befremdlichen Musical-Sequenzen. Diese faszinierende Kollision von Stimmungen und Stilformen ist nicht unbedingt neu (man denke an die TV-Mehrteiler von Dennis Potter wie
The Singing Detective, 1986), aber selten so eindrucksvoll im Film umgesetzt worden: Björks natürliches Spiel und ihre überschwenglichen Gesangs-und-Tanz-Einlagen sind trotz (oder gerade wegen dem Mut zu) Momente(n) unfreiwilliger Komik und überladenem Pathos schlichtweg bezaubernd.