Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau machte sich ein trauernder Jack Nicholson in der wunderbaren Tragikomödie „About Schmidt“ (2002) mit seinem Wohnwagen auf einen Roadtrip ohne physisches Ziel, wohl wissend aber, dass er in seinen letzten Jahren etwas unternehmen muss, um nicht in Trauer allein in seinem Haus zu versinken. Es war eine Art Selbstfindungstrip, an dessen Ende er zu der Erkenntnis kam, dass sein Leben doch einen Sinn hat, wenn er Menschen glücklich machen kann.
Ein ganz anderes Ziel verfolgt Schauspielschwergewicht Robert De Niro in „Everybody’s Fine“. Das Remake von Kinomagier Giuseppe Tornatores Original aus dem Jahre 1990 startet auffallend unauffällig in den deutschen Kinos, wird aber hoffentlich durch die herausragende Besetzung, angeführt von einem intensiv und rührend spielenden De Niro, der unterstützt wird durch mit Kate Beckinsale, Sam Rockwell und Drew Barrymore toll besetzte Nebenrollen, ein Publikum finden, das diesen wunderbaren, unspektakulären Film zu schätzen wissen wird.
Die Geschichte ist aus dem Leben gegriffen: einer der größten Wünsche des vierfachen Familienvaters Frank (sehr einfühlsam und lebensnah: Robert De Niro) ist es nach dem Tod seiner Frau, nach langer Zeit endlich einmal die ganze Familie, sprich die beiden Töchter Amy (Kate Beckinsale) und Rosie (Drew Barrymore) und die beiden Söhne Robert (Sam Rockwell) und David, zu ihm kommt und an einem Tisch sitzt. Diese Hoffnung zerplatzt au
f einen Schlag, als mitten in seinen Vorbereitungen dafür einer nach dem anderen absagt. Er beschließt, seine Kinder zu überraschen und tritt eine Reise an, auf der er erkennen muss, dass ihm seine inzwischen erwachsenen Kinder fremd geworden sind…
Die Kurzweil dieser Tragikomödie ergibt sich sicherlich durch das hervorragende Spiel aller Beteiligten, nicht zuletzt aber auch durch die mit vielen thematischen Querschnitten durchsetzte Geschichte. Im Vordergrund steht die Reise von Frank, der seine Familie besucht. Sie bildet die erzählerische Struktur des Films, wobei die die Begegnungen mit den einzelnen Personen für sich stehen.
Als Zuschauer erfährt man bereits früh, dass irgendetwas nicht stimmt. Während man Frank auf seiner Reise begleitet und ihn als Identifikationsfigur durch die herzliche Eingangssequenz schnell lieb gewonnen hat, erfährt man durch eingespielte Voice-Overs der Telefonate seiner Kinder untereinander, dass sie etwas zu verheimlichen haben. Angenehm unaufdringlich werden die Figuren in ihrem Wesen portraitiert, man erahnt für sich gewisse Dinge, die sich später durch Zufälle oder immer häufiger werdende Anflüge von (Selbst-)Erkenntnis bewahrheiten, sodass man das Gefühl hat, mit den Charakteren umgehen zu können. Fortwährend fühlt man mit Frank mit, der doch irgendwie ahnt, dass etwas nicht zu stimmen scheint. Alle wollen ihn irgendwie abwimmeln oder tischen ihm Lügen auf, was ihr Leben betrifft. Dabei will er tief in seinem Inneren doch nur eins, und das ist bei jeder Begegnung das verbindende Glied: Er möchte wissen, ob seine erwachsenen Kinder glücklich sind.
Die bereits angesprochene Vielzahl an Themen äußert sich in den verschiedensten Situationen. So zeugt z.B. der ärztliche Rat zu Beginn des Films, die Reise nicht anzutreten, da Frank in seinem Berufsleben zu viele schädliche PVC-Gase eingeatmet hat, von einem Beruf, der gesundheitliche Konsequenzen mit sich bringen kann. Und richtig, es dauert nicht lange, bis Frank einer Mitreisenden im Zug spielerisch berichtet, dass er die Gummiumhüllungen um Telefonleitungen hergestellt und gewickelt hat. Eine bittere Ironie, die der Film auch visuell oft untermauert: ständig sind Telefonmäste und –leitungen präsent, und während man lauscht, was das Problem seiner Kinder ist und wie sie sich gegen seinen Willen absprechen, erkennt man, dass es seine umhüllten Telefonleitungen sind, über welche er nun von seinen eigenen Kindern in gewissem Sinne hintergangen wird.
Ohne großartig auf lang angelegte Rückblicke zu bauen, erfährt man im Prinzip alles durch die Dialoge: das Verhältnis der Figuren zueinander, die Sichtweisen der Charaktere und unglaublich viel auch über das Innenleben der einzelnen Menschen. Wenn Frank z.B. seinen Sohn Robert im Orchester in dem Glauben besucht, er sei ein viel beschäftigter und angesehener Dirigent und feststellen muss, dass er einfach nur Trommler im Ensemble ist, offenbart sich gleich eine ganze Palette von Persönlichkeitsaspekten. Man sieht Frank die Enttäuschung darüber an, dass sein Sohn in seinen Augen nichts Besonderes in seinem Leben geworden ist und wird sich zeitgleich darüber bewusst, dass es um das Vertrauen zwischen Vater und Sohn eigentlich ziemlich schlimm steht, wenn er es nicht fertig brachte, ihm zu sagen, was er eigentlich macht. Ähnlich ergeht es Frank mit seinen anderen Kindern, bei denen er auf gescheiterte Ehen, Drogen andere Dinge stößt, die in seine eigene von Idealen und Regularien geprägte Welt nie einen Weg gefunden hätten. So taucht mehrfach im Film die Erinnerung Franks auf, wie er seinem Sohn David einen Leitspruch eintrichterte, der ihn schon im Kindesalter in die Bahn lenken sollte, die Frank für angemessen hielt.
Hart wie das Leben selbst sind auch kleinere eingestreute Vorgänge, die sich zwischen den einzelnen Begegnungen ereignen. Wenn Frank etwa zeigt, dass er ein gutmütiger Mensch ist, als er einem drogenabhängigen Jugendlichen in einem Bahndurchgang Geld schenkt, sickert durch, dass er selbstverständlich ein großes Herz hat – wenngleich er auch auf die Einhaltung gewisser Höflichkeitsformen besteht, als er den Jungen ermahnen muss, dass es sich gehört, Danke zu sagen, wenn man etwas geschenkt bekommt. Eine Ermahnung, die in einer Welt wie dieser manchmal Konsequenzen hat…
Erst, als sich die gesundheitlichen Einschränkungen des Alters bemerkbar machen, erkennt Frank in einer traumartigen Sequenz, dass das Verhältnis zu seinen Kindern ganz und gar nicht stimmt. Sobald er seine Kinder im Film erblickt, erscheinen sie ihm vor seinem geistigen Auge als die kleinen 10- oder 12-Jährigen, die sie mal waren – also genau in jener Etappe ihres Lebens, die die letzte ist, in der Frank so richtig wusste, wer seine Kinder waren. Sie selbst sagen ihm mitunter sogar, dass er nie die Vertrauensperson war, sondern immer seine Frau, solange sie lebte. „Mum konnte gut immer zuhören, du konntest immer gut reden“, entgegnet ihm etwa Tochter Rosie auf die Frage, warum er eigentlich nie eine Person von Interesse war, wenn beispielsweise eine Tochter anrief und es jedes Mal aufs Neue nur hieß „Hey Dad, ist Mum da?“.
An diesem Punkt erkennt Frank Fehler seiner Erziehung; er erkennt seinen oftmals sturen Kopf und seine fehlende emotionale Bindung zu seinen Kindern. Natürlich hat er seine Kinder immer geliebt. Aber ohne es zu wollen, war er außerstande, eine richtige Bezugsperson für sie zu sein und dass er diese Erkenntnis ohne Wenn und Aber jetzt akzeptiert, symbolisiert der in dieser Szene plötzlich auftretende Regen. Die Kinder laufen ins Haus und Frank sitzt im wahrsten Sinne des Wortes im Regen – die schmerzliche Einsicht, die er gewinnen musste, lähmt ihm in diesem Momente jede Handlungsbereitschaft.
Bitter ist der wohl passendste Begriff für sämtliche Prozesse der Erkenntnisfindung während des Films, sowohl bei den Charakteren als auch beim Zuschauer. Mit seinem anrührenden Spiel erreicht De Niro eine Authentizität, die oftmals stark an die eigenen Erfahrungen erinnern. Der Generationskonflikt, welcher wohl immer bestehen wird und zwischen Eltern, Großeltern und Kindern stets präsent ist, macht sich indirekt hier natürlich auch bemerkbar und seien wir ehrlich: Wer erinnert sich nicht daran, wie er mal ein geliebtes Familienmitglied abgewimmelt hat, weil er einfach in dem Moment keinen Draht zu der Person fand und nicht wusste, was man mit ihm reden soll? Genau so wird das gemeinhin als Generationslücke bezeichnete Problem im Film beim Namen genannt, wenn Rosie mit ihrem Bruder telefoniert und während Franks Abwesenheit zugibt, dass sie „nicht weiß, was sie mit ihm reden soll“. Oft fällt auch der Satz, man könne ihn hier nicht gebrauchen. Hört man solche Sätze und sieht, wie in Franks Figur bereits die Erkenntnis keimt, dass ihn keiner so richtig bei sich haben will, muss man einfach Mitgefühl aufbringen und wird zum Nachdenken angeregt, dass das hoffentlich nicht einem selbst passiert und dass man, egal, welche Marotten die Älteren auch manchmal haben, als liebendes und geliebtes Familienmitglied einfach über selbige hinwegsieht und sich daran erfreut, dass es diese Menschen überhaupt gibt.
Genau in diesem Punkt liegt die inhaltliche Stärke dieses wunderbaren Films: er unterhält nicht nur, erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern berührt uns, geht ans Herz und – und das ist das Wichtigste - regt uns auf völlig unaufdringliche Art und Weise ohne absichtlichen Druck auf die Tränendrüse zum Nachdenken und zu emotionalen Regungen an. Und wenn ein Film das schafft, hat er seinen besonderen Anspruch, nicht einfach nur 08/15-Popcornkost zu sein, voll und ganz erfüllt und jeder wird sinnierend und mit eigenen Eingeständnissen den Kinosaal verlassen – in dem Wissen, dass die eigene Familie doch immer noch das Wichtigste ist und dass man sie hegen und pflegen sollte, bevor man das Allerwichtigste, was Menschen - gerade innerhalb einer Familie – miteinander haben können, verlieren könnte: den aufrichtigen Draht zueinander.