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Manchester by the Sea

Manchester by the Sea

Ein Film von Kenneth Lonergan

Daddy, siehst Du denn gar nicht, dass wir brennen?

Um es gleich vorweg zu nehmen: „Manchester by the Sea“ kommt der (Form-)Vollendung seiner kinematografischen selbst erschreckend nahe auf die Schliche. Man kann indes nur hoffen, um dem Puls der Zeit an dieser Stelle die zweifelhafte Ehre zu erweisen, dass sich Kenneth Lonergans dritte Regiearbeit, nach „You Can Count on Me“ und „Margaret“, im Rennen um die heißbegehrten Oscar-Trophäen gegen die ihm gegenüber deutlich abfallende Konkurrenz mit „La La Land“ und „Hacksaw Ridge - Die Entscheidung“ durchsetzen wird – verdient hätte er es, wenngleich etwaige Auszeichnungen natürlich eine kaum ernstzunehmende Bedeutsamkeit genießen. Dabei ist „Manchester by the Sea“ ein Film, dessen Wesen dem selbstbeweihräuchernden Glamour der Academy Awards diametral gegenübersteht. Ein Film, der aus der Ruhe seine Kraft schöpft und aufzeigt, dass stille Wasser tatsächlich unglaublich tief sein können.

Kristallisationspunkt der Handlung ist Lee Chandler (Casey Affleck, „Interstellar“). Ein unauffälliger Durchschnittstyp, der in Boston sein täglich Brot als Hausmeister verdient. Dass es Lee nicht gut geht, um seinen Gemütszustand an dieser Stelle einmal gnadenlos zu b
agatellisieren, wird bereits mit seiner ersten Szene klar. Die Körperhaltung ist gekrümmt, die Schultern hängen, die Hände in den Taschen verstaut, die Gesichtszüge weisen keinerlei Regung auf. Lee gleicht vielmehr einem Gespenst als einem lebendigen Wesen. Er existiert nur noch – und selbst diese Beschreibung wird ihm kaum gerecht. Was geschehen ist, dass Lee zu dieser Person werden konnte, an der das Leben gnadenlos vorbeirauscht, lässt „Manchester by the Sea“ lange Zeit im Dunkeln. Stattdessen beruft sich Kenneth Lonergan auf eine zeitliche Parallelisierung der filmerzählerischen Ebenen.

In immer wiederkehrenden Rückblenden werden wir Zeuge des Vorfalls, der Lee vollends aus der Bahn geworfen hat. Worum es sich dabei genau handelt, soll hier nun natürlich nicht verbalisiert werden, eine Sache allerdings ist sicher: Die Tragik dieses Ereignisses schwingt sich in eine derart beklemmende Dimensionen auf, dass selbst die simultane musikalische Begleitung von Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach in diesem Moment furchtbar mickrig und unbedeutend erscheint. Katalysator der Handlung ist allerdings ein anderer Schicksalsschlag, nämlich der plötzliche Tod von Lees Bruder, was Lee aus heiterem Himmel zum Vormund seines Neffen Patrick (Lucas Hedges, „Kill the Messenger“) erheben soll. So jedenfalls lautet der im Testament vermerkte Wunsch seines Bruders. Wie aber soll Lee für einen Menschen Verantwortung übernehmen, wenn er in seinem eigenen Leben keinerlei Struktur aufweisen kann?

Manchester by the SeaManchester by the SeaManchester by the Sea

Wie schon eingangs erwähnt, bleibt „Manchester by the Sea“ ein Werk, welches sich niemals für reißerische Artikulationen interessiert. Die zwischenmenschlichen Interaktionen belaufen sich auf einen Radius, in dem Gefühlsausbrüche oftmals nur ein Zittern der Stimme, einen zerdehnten Augenaufschlag, einen gequälten Blick auf den Boden bedeuten. Lees Vergangenheit hat sich ihm wie eine Zentnerlast auf den Brustkorb gelegt. Die Trauer frisst sich ihm nach wie vor bis ins Mark, gräbt Schächte durch seine Eingeweide, höhlt ihn aus, so dass augenscheinlich nur noch eine apathische Hülle von Mensch übrig scheint. „Manchester by the Sea“ lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass Lees Schmerz niemals abklingen wird. Das Vergangene ist eine klaffende Wunde, die sich ihm mit jedem Herzschlag bemerkbar macht. 70 Mal in der Minute, 4.200 Mal in der Stunde, 50.400 Mal am Tag.

Manchester by the SeaManchester by the SeaManchester by the Sea

Allerdings, und darin liegt das Genie des hochkonzentrierten Films begraben, geht es Kenneth Lonergan nicht um die (im wahrsten Sinne) unaussprechlichen Höllenqualen per se, die Lee tagein tagaus durchstehen muss. Es geht ihm darum, aufzuzeigen, dass man trotz seiner tiefen, innerseelischen Leiden weiterhin am Leben teilnehmen kann, indem man sich, wenn auch nur zaghaft, auf sozialen Kontakt einlässt. Der Umgang mit anderen Menschen, konkret Patrick, ist hier für Lee der Schlüssel, um seinen Selbsthass ein Stück weit einzudämmen und seine Existenz einen Funken erträglicher zu gestalten. Am Ende spendet „Manchester by the Sea“ trotz seiner existentiellen Schwere auch etwas Trost. Dass der Film letztlich aber dermaßen kraftvoll und organisch auf den Zuschauer einwirkt, ist der eindrucksvollen Performance von Casey Affleck zu verdanken. Sein Auftritt ist eine Lehrstunde darin, wie ergreifend nuanciertes Schauspiel in meisterhafter Form aussieht.

Cover & Szenenbilder: © 2016 Roadside Attractions

Eine Rezension von Pascal Reis
(09. Februar 2017)
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Daten zum Film
Manchester by the Sea USA 2016
(Manchester by the Sea)
Regie Kenneth Lonergan Drehbuch Kenneth Lonergan
Produktion K Period Media, B Story, CMP, Pearl Street Films Kamera Jody Lee Lipes
Darsteller Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Lucas Hedges, Matthew Broderick, Gretchen Mol
Länge 137 Minuten FSK ab 12 Jahren
Filmmusik Lesley Barber
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