8.125 Meter ragt der Nanga Parbat in den Himmel. Er ist der neunthöchste Berg der Welt. "Nackter Berg" bedeutet sein Name wörtlich übersetzt. Dabei ist weniger er es, sondern vielmehr seine Besteiger, die an seinen Flanken um das nackte Überleben kämpfen. "Es gibt die Bergnatur und die Menschennatur", sagt Reinhold Messner. Wir können den Berg nicht verändern, aber er verändert uns. "Wir hacken mit dem Pickel ein Loch ins Eis. Drei Minuten später ist es wieder zugefroren. Wir hinterlassen am Berg höchstens ein paar Fußspuren, aber in uns passiert etwas. Wir kommen als andere zurück."
1970 kehrte Reinhold Messner bestimmt als ein anderer von jener Himalaya-Expedition zurück, die seinem Bruder Günther das Leben kostete. Viele Male bestieg er in den folgenden Jahren den Berg, suchte nach Günthers Leiche und lässt nach wie vor Anschuldigungen über sich ergehen, er habe seinen kleinen Bruder auf dem Gewissen. In Büchern verarbeitete Messner die Geschehnisse, ist mittlerweile "mehr oder weniger im Reinen mit dieser Tragödie". Was tatsächlich am 27. Juni 1970 wenig unterhalb des Gipfels des Nanga Parbat geschah, weiß er allein: Messner ist der einzige Überlebende.
Doch Joseph Vilsmaiers Film geht viel weiter zurück. Er zeichnet ein Bild zweier Burschen, denen das Klettern in die Wiege gelegt wurde; junge Wilde, denen schon mit elf und dreizehn Jahren die Südtiroler Dolomiten gar nicht hoch genug sein konnten. "Es ist das Schicksal des Jüngeren, immer im Schatten des Älteren zu stehen", heißt es ganz am Ende des Films. Und genauso ist er auch aufgebaut: Der zwei Jahre jüngere Günther Messner (Andreas Tobias) eifert von Anfang an seinem großen Bruder Reinhold (Florian Stetter) nach. Er ist eifersüchtig, als dieser die Zusage erhält, an der von Dr. Karl-Maria Herrligkoffer (Karl Markovics) geleiteten Expedition zum Nanga Parbat teilzunehmen. Eigentlich ist für Günther kein Platz, doch als ein Bergsteiger abspringt, schlägt Reinhold seinen Bruder als Ersatz vor.
Die Siegi-Löw-Gedächtnisexpedition von 1970 ist bereits Karl-Maria Herrligkoffers siebenter Versuch, den Nanga Parbat zu bezwingen. Dieses Mal soll es über die Rupal-Flanke gelingen: Die mit 4.500 Metern höchste Steilwand der Welt. Mit dreizehn der besten Extrembergsteiger der Welt und mehreren Tonnen Ausrüstung reist er nach Pakistan. Vier Wochen bringen sie damit zu, den Aufstieg vorzubereiten und fünf Hochlager zu errichten. Das Wetter ist ungünstig, und die Zeit drängt: Für die Besteigung ist eine Genehmigung nötig, die in wenigen Tagen abläuft. Die Männer, Reinhold allen voran, haben die ewige Warterei satt.
Zumindest im Film informiert Reinhold Messner den Expeditionsleiter Herrligkoffer von seinem Plan, die Rupal-Flanke notfalls im Alleingang zu bezwingen. Dieser gibt - zumindest im Film - grünes Licht: "Am Ende zählt nur der Sieg." Vom Lager V auf 7.350 Metern bricht Messner in den Morgenstunden des 27. Juni 1970 zum Gipfel auf. Günther, Felix Kuen (Steffen Schröder), Peter Scholz (Sebastian Bezzel) und Gerhard Baur (Volker Bruch) bleiben im Lager zurück und sollen Reinholds Abstieg sichern. Obwohl sein Bruder vier Stunden Vorsprung hat, geht Günther ihm nach und holt ihn ein - ohne Ausrüstung, ohne Proviant und ohne den Rückweg gesichert zu haben.
- 600 Meter in vier Stunden! Bist du wahnsinnig?!
- Gut, dann hab ich halt Mist gebaut. Bist zufrieden?
- Du bist zu erschöpft, Günther.
Trotzdem gehen beide weiter, erreichen den Gipfel um 17.00. Sie sind zu spät; auf achttausend Metern zieht die Nacht schnell herauf und Günthers Kräfte schwinden. Anstatt über die ungesicherte Rupal-Wand zurückzugehen, versuchen die Messner-Brüder, über die Diamir-Flanke abzusteigen. Der Grund? "Die Schwäche und Höhenkrankheit von Günther. Mein Bruder wird schwach und traut sich nicht mehr", lautet Messners Antwort. "Ich hatte angenommen, wenn jemand kommen würde, dann wegen uns, um uns zu retten." Am Tag darauf kommt tatsächlich jemand, allerdings nicht zur Rettung der Messner-Brüder: Felix Kuen und Peter Scholz gelingt am 28. Juni 1970 der Aufstieg zum Gipfel. Sie haben Sichtkontakt zu Reinhold Messner, der ihnen versichert, bei ihm und Günther sei soweit alles in Ordnung.
Die Brüder suchen einen Weg nach unten, verbringen eine weitere Nacht am Berg - ohne Zelt, ohne Proviant, bei minus 30 Grad, in der Todeszone. Dort ist die Luft viel zu dünn: Der Körper wird nicht ordentlich mit Sauerstoff versorgt; "das Gehirn ist leer und wie mit Watte gefüllt", sagt Reinhold Messner. Schon viele Bergsteiger haben beschrieben, wie der Sauerstoffmangel die Wahrnehmung beeinflusst. Auch der Reinhold Messner im Film halluziniert, folgt einem "Einheimischen", der ihm den Weg nach unten zeigt. Was dann passiert, ist bis heute unklar. Niemand war dabei, als Günther Messner in einer Lawine starb. Von den Männern, die den Gipfel erreichten, ist Reinhold Messner der einzige Überlebende: Felix Kuen beging bald nach dem Ende der Expedition Selbstmord, Peter Scholz stürzte am 18. Juli 1972 an der Aiguille Noire zu Tode.
In den folgenden Jahren lieferte sich Reinhold Messner diverse gerichtliche Auseinandersetzungen mit Karl-Maria Herrligkoffer, Albert Bitterling und Michael Anderl, die ebenfalls an der Expedition beteiligt waren. Messner bezichtigte sie der Verleumdung, der fahrlässigen Tötung sowie unterlassener Hilfeleistung - und verlor. Sein Buch "Die rote Rakete" musste vom Verlag zurückgezogen werden. 2001 griff er das Thema wieder auf und veröffentlichte "Der nackte Berg", das als Vorlage zum Film diente. Im Buch griff Messner nicht mehr die Leitung, sondern die Teilnehmer der Expedition an. Seine Kollegen Hans Saler und Max von Kienlin beantworteten die Vorwürfe ihrerseits in Buchform - gegen die wiederum Messner mit Erfolg klagte.
2005 gab der Nanga Parbat die Leiche von Günther Messner frei; sie wurde an einem Ausläufer der Diamir-Flanke gefunden, über die Reinhold Messner damals ins Tal gelangte. Experten zufolge bestätigt der Fundort Messners Geschichte, sein Bruder sei ein gutes Stück mit ihm abgestiegen, doch viele Ungereimtheiten bleiben. Er wollte mit diesem Film selbstkritisch hinterfragen, was am Nanga Parbat passierte, sagt Reinhold Messner. Besonders selbstkritisch ist die Verfilmung nicht geworden. Fraglich ist außerdem, wie detailgetreu die Erinnerung an Geschehnisse sein kann, die mittlerweile fast 40 Jahre zurückliegen und durch eine massive Unterversorgung an Sauerstoff, Flüssigkeit und Nahrung getrübt wurden. Es sei nicht sein Film, er habe nur die Beratung gemacht, sagt Messner. Trotzdem steht sein Name unter dem von Regisseur Joseph Vilsmaier auf dem Plakat. "Na, was denn nun?", möchte man ihn fragen. Und: Was reizt einen Menschen, der dieses - sein - Thema bereits in mehreren Büchern ausführlich beackert hat, an einer filmischen Nacherzählung?
Messners medial und gerichtlich geführten Kleinkrieg im Hinterkopf, wirkt der Film wie eine Rechtfertigung. Von Anfang an wird Günther als der Schwächere der beiden Brüder gezeichnet - wobei er das durchaus gewesen sein mag. Es sei gerade die Brudergeschichte, die Rivalität gewesen, die Vilsmaier gereizt habe. Der Rest der Mannschaft bleibt in der Darstellung dementsprechend blass. Den Bruderzwist inszeniert Vilsmaier auf zweifacher Ebene: Tatsächlich hat auch der Expeditionsleiter Karl-Maria Herrligkoffer am Nanga Parbat einen Bruder verloren: Sein Halbbruder Willy Merkl fand hier 1934 den Tod. Nach ihm ist eine der schwierigsten Stellen der Rupalwand - die Merkl-Rinne benannt. Und ihm zu Ehren führte Herrligkoffer 1953 seine erste Expedition zum Nanga Parbat, bei der Herrmann Buhl die Erstbesteigung des Gipfels gelingt. "Der Film ist kein Vorwurf an irgendwen", sagt Vilsmaier. Es stimmt: Sein Film will niemandem auf die Zehen treten. Gewissermaßen kann dies als Zeichen dafür gedeutet werden, dass Reinhold Messner nun endlich Frieden schließen und sich nicht weiter bekriegen will. Die auch im Film angesprochene "Schuld des Überlebenden" mag dabei eine erhebliche Rolle spielen. Außerdem ist es nicht die Aufgabe eines Spielfilms, tiefgreifende und detailgetreue Erklärungen anzubieten.
Joseph Vilsmaier hat beeindruckende Bilder an Originalschauplätzen eingefangen, war sowohl in Südtirol als auch im Himalaya unterwegs. Messner achtete darauf, dass die klettertechnische Seite stimmte. Der Berg, der Schnee, die Lawinen waren echt und das merkt man dem dem Film auch an. Doch trotz der atemberaubenden Bilder bleibt Vilsmaiers Film hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Dialoge wirken gestelzt und hölzern, was daran liegen mag, dass sich Vilsmaier für akzentfreies Hochdeutsch sprechende Hauptdarsteller entschieden hat, denen man die südtiroler Bergfexe nicht abnimmt. Dabei liegt das weniger an der schauspielerischen Leistung von Florian Stetter und Andreas Tobias, sondern viel mehr an dem Bruch zwischen Bild und Ton. Ein Südtiroler spricht nun einmal kein akzentfreies Hochdeutsch. "Ein Berg ist nur eine geologische Formation", sagt Reinhold Messner. "Wir Menschen tragen die Emotionen zum Berg." Tatsächlich ist "Nanga Parbat" allerdings in jenen Szenen emotional am stärksten, in denen die Macht und Energie des Bergs - untermalt von der großartigen Filmmusik Gustavo Santaolallas - in Zeitraffer- und Hubschrauberaufnahmen zum Tragen kommen. Vilsmaier liefert im Making of unfreiwillig eine Erklärung, als er über die Probleme des Drehs vor Ort spricht: "Der Berg ist der Hauptdarsteller, ein Mythos und ein Dämon, den man nicht kontrollieren kann." Am besten beschreibt es jedoch ein Filmdialog zwischen Reinhold und Günther:
- Wenn ich wiederkomm, möcht ich vom Bergsteigen leben.
- Du spinnst. Als Bergsteiger kannst nur leben, wenn du berühmt bist. Und berühmt wirst nur, wenn du stirbst.
Kinostart: 14.01.2010 (Deutschland) und 15.01.2010 (Österreich)