Wenn der Begriff
Kannibalismus im filmischen Kontext fällt, werden viele Leser vermutlich zuerst an beinharte Genre-Kost wie das
„Texas Chainsaw Massacre“ (1974) oder Ruggero Deodatos
„Cannibal Holocaust“ (1980) denken.
Der junge Regisseur Jorge Michel Grau betrachtet das Tabu-Thema in seinem Spielfilm-Debüt „Somos lo que hay“ allerdings von einem ganz anderen Blickwinkel.
Eine Familie von Anthropophagen lebt irgendwo mitten in Mexico-City.
Sie wartet auf die Wiederkehr des Vaters, um eine für den Fortbestand offensichtlich notwendige Opferungszeremonie durchführen zu können.
Doch der Vater kommt nicht - ihm hat seine Gier nach Prostituierten das Leben gekostet.
Die übrige Familie – bestehend aus der ausgezehrten Mutter, zwei Jungen und einem Mädchen – ist außer sich vor Verzweiflung.
Was sollen sie tun, wer soll nun die notwendigen Entscheidungen fällen und Handlungen ausüben?
Während die Mutter das Geheimnis des Rituals nicht preisgibt und sich in ihrem Zimmer vom Rest abschottet, kommt es zwischen dem älteren Alfredo (Francisco Barreiro) und dem jüngeren, aufmüpfigen Julián (Alan Chávez) zu einem erbitterten Familien-Machtkampf.
Wem wird es letztlich gelingen, das ersehnte Opfer zu beschaffen, bis die unsichtbare Uhr abgelaufen oder die ermittelnde Polizei eingetroffen ist?
Mit „Somos lo que hay“ legt Grau ein äußerst stilles und zurückhaltendes Werk vor, das man nur schwerlich als waschechten Horrorfilm bezeichnen kann.
So dient die Kannibalen-Thematik auch eher sinnbildlich für die Wertlosigkeit eines einzelnen Lebens in einer Stadt, welche ohnehin in einer Flut von Gewalt und Mord unterzugehen droht.
Jeder versucht zu überleben, ohne Rücksicht auf Verluste.
Eingebettet worden ist die Geschichte dabei in ein nahezu klassisches Familien-Drama, welches den Zuschauern zunächst die Labilität des Geflechts nach dem Wegfall des patriarchischen Oberhauptes vor Augen führt.
Weder die strenge, aber zunächst wenig hilfreiche Mutter, noch die unerfahrenen Söhne schaffen es aus dem Stegreif, in die „Jäger und Sammler“-Rolle zu schlüpfen.
Vor allem der von seiner Schwester Sabina (Paulina Gaitan, „Sin Nombre“) als Nachfolger angesehene Alfredo hadert mit seiner ungewollten Bestimmung, während Julián einen fast angenehmen Nervenkitzel bei den ersten Beutefang-Versuchen empfindet.
Die Handlungen der Beiden werden allerdings von der Mutter nachdrücklich abgelehnt, bis diese schließlich selbst in Aktion treten muss.
An diesem Punkt befindet sich die ohnehin wenig intakte Familie bereits auf ihrem Weg weiter nach unten, und nur das mysteriöse Ritual scheint nun noch über deren Weiterleben entscheiden zu können.
Die Wahl des Regisseurs, den Zuschauern eigentlich über die gesamte Spielzeit nur ein vages Konstrukt an die Hand zu geben und diese ansonsten, wie die beiden Brüder, über das doch so dringliche Ereignis im Dunkeln zu lassen, erweist sich als sehr effektiv.
Er mischt der eigentlich sehr überschaubaren Geschichte ein scheinbar extrem bedeutendes, übersinnliches Element unter, welches möglicherweise das elende Schicksal der Charaktere von einem Moment zum anderen vollkommen umkehren könnte.
Vermutlich aber werden die meisten Zuschauer, die eine Art „großen Knall“ erwarten, am Ende eher enttäuscht sein und sich mit einer auf einen kleinen Zettel geschriebenen, knappen aber wichtigen Botschaft konfrontiert sehen.
„Somos lo que hay“ ist ein kleines und sehr interessantes Werk, das bis auf wenige drastische Szenen eher ein
Arthouse-Publikum ansprechen wird.
Lediglich die obligatorische, etwas unpassend-komödiantische Nebenhandlung mit den ermittelnden und natürlich bestechlichen Polizisten hätte nicht unbedingt sein müssen.
Dafür versetzt einen die letztliche, sehr atmosphärische Zeremonie-Szene in ihrer famosen Umsetzung gedanklich schon fast zu einem wilden Kannibalen-Stamm irgendwo im Herzen des Urwalds, wenn das schäbige Haus im rituellen Kerzenschein erstrahlt und die überall aufgehängten Uhren mit ihrem Ticken die hypnotischen Perkussionsklänge ersetzen.
Hier lohnt es sich wirklich, ein wenig Geduld in das Betrachten des langsamen (aber nicht langweiligen) Films zu investieren, denn der Mehrwert steigt beim Zuschauer noch während des mit einem großartigen Soundtrack ausgestatteten Abspanns.