Wenn der Begriff
wandlungsfähig auf einen Regisseur zutrifft, dann auf Jonathan Demme. Liest man nach Begutachtung seines neuen Films, dem halbdokumentarischen Familiendrama “Rachels Hochzeit”, den Namen des Oscar-Preisträgers im Abspann, mag man nur schwer glauben, dass hier von dem Mann die Rede ist, der vor beinahe zwanzig Jahren Kinogeschichte schrieb, als er - mit Anthony Hopkins und Jodie Foster in zwei unvergesslichen Rollen - die Lämmer zum Schweigen brachte. Zwischen seinen ersten Schritten auf dem roten Teppich Hollywoods mit der Begründung des kannibalistischen Kultkillers Dr. Hannibal Lecter und seinen neuzeitlichen Arbeiten als spezifischeren Stoffen zugewandter Filmschaffender lag in der Tat ein weiter Weg. In seinem aktuellsten Werk präsentiert sich Demme als geradezu experimentierfreudiger, jegliche ungeschriebene Reglements der modernen Filmkunst über den Haufen werfender Regisseur - “Rachels Hochzeit” ist gefühlsechtes, intensives Schauspielerkino von hohem Rang.
Seit etwa einem Jahr lässt die polytoxe Kym (Anne Hathaway) in einer Entzugsklinik ihre Alkohol- und Drogensucht therapieren. Anlässlich der Hochzeit ihrer Schwester Rachel (Rosemarie DeWitt) kehrt die junge Frau für ein Wochenende in ihr Elternhaus, ein großzügiges Anwesen irgendwo in Connecticut, zurück, wo die Familien der Braut und des Bräutigams sich bereits in gediegenen Feierlichkeiten ergehen und die Vorbereitungen auf die anstehende Eheschließung
auf Hochtouren laufen lassen. Die unsichere und ihre Selbstzweifel konsequent mit sarkastischen Äußerungen (Rachel nennt es “Entzugshumor”) überspielende Kym eckt mit ihrem ich-bezogenen, provokanten Verhalten jedoch schnell bei den anwesenden Hochzeitsgästen, einschließlich ihrer Schwester, an. Trotz Ermahnung, sie solle mit der Zigarette doch bitte vor die Tür gehen, raucht sie permanent in der Wohnung und ihre spitze Zunge kann sie zudem nur selten im Zaum halten. Zusätzlich Futter bekommt der innerfamiliäre Zwist, als der Tod ihres kleinen Bruders Ethan zur Sprache kommt, den Kym vor Jahren im Vollrausch verschuldet haben soll. Doch dies ist nur einer von vielen unausgesprochenen Konflikten, die unter der Oberfläche der glückseligen Hochzeitsgesellschaft hindurchsickern…
Als stiller, unparteiischer Beobachter hält Declan Quinn`s flexible Handkamera die intimen Verwicklungen und Streitfälle einer Familie fest, in der mit der Heirat zweier sich liebender Menschen eigentlich die Harmonie in den Haushalt einziehen müsste. Doch mit Kym`s Ankunft, bei der sie ihre Schwester Rachel sogleich mit giftigen Bemerkungen anspitzt und in Anspielung auf ihre ehemalige Magersucht Kommentare zu deren schlanker Figur loslässt, bricht sie einen Streit vom Zaun, in folge dessen alte Wunden wieder aufgerissen werden und jeder dem anderen die Schuld dafür in die Schuhe schiebt. Beide, sowohl Rachel als auch Kym, die im Mittelpunkt stehenden Schwestern, deren offen ausgetragene Feindseligkeiten der sich bedeckt haltende Vater (Bill Irwin) immer wieder zu schlichten versucht, sind nicht bereit, aufeinander zuzugehen. Rachel, die Kym vorwirft, sie wolle anderen ihr Leid aufdrängen und im Rahmen einer obligatorischen Tischrede beiläufig Wiedergutmachung einfordern, lässt ihre Schwester mitten in einer angeregten Diskussion plötzlich auflaufen, als sie in den Raum wirft, dass sie schwanger ist. Sofort ist alle Aufmerksamkeit auf Rachel gerichtet. Eine solche Ignoranz geht an Kym, die sich ohnehin vernachlässigt fühlt und ihre einzigen verständnisvollen Zuhörer in den Mitgliedern einer Selbsthilfegruppe der anonymen Alkoholiker gefunden hat, natürlich nicht spurlos vorüber, auch wenn es vielleicht rein äußerlich den Anschein erweckt.
Kym weigert sich ihrerseits, sich zu öffnen und wittert hinter jeder unklaren Andeutung einen zielgerichteten Angriff auf ihre Person. Von ihrem Vater fühlt sie sich ständig überwacht. In dessen offensichtlicher Sorge erkennt sie nicht etwa einen Ausdruck von Zuneigung, sondern nur eine krampfhafte Angst seinerseits, sie könne rückfällig werden und erneutes Chaos in der Familie auslösen. Ob sie damit richtig liegt oder nicht, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass aus dem andauernden Wechselspiel zwischen Annäherungs- bzw. Versöhnungsängsten und unbegründeten Schuldzuweisungen ein Teufelskreis entsteht, der einen Keil zwischen die Familie treibt. Andererseits zeigt Kym mit ihrem Verhalten auch, dass sie sehr wohl ein Schuldbewusstsein besitzt, dies aber verdecken will, indem sie das in der Vergangenheit Erlebte beliebig zu ihren Gunsten umformuliert. Missverständnisse entstehen nicht selten genau an dem Punkt, wo Geheimnisse gehütet oder in Lügen wiedergegeben werden. Wenn Kym in verzweifelter Raserei mit ihrem Auto gegen einen Baum rast und überlebt, erlangt sie damit zwar die gewollte Aufmerksamkeit, die Reinigung der Seele kann allerdings nur dann erfolgen, wenn sie bereit ist, die Ängste und inneren Konflikte ihrer Mitmenschen zu verstehen.
Sydney Lumet`s Tochter Jenny, die das Skript zu “Rachels Hochzeit” schrieb, entwarf Dialoge, so scharf geschliffen wie ein Skalpell, in denen eine Bandbreite von menschlichen Schwächen und Verhaltensweisen offenbar wird. Dennoch wirkt das Drehbuch nicht konstruiert, sondern im Gegenteil verblüffend authentisch und direkt, fast wie improvisiertes Theater. Man hat auch niemals das Gefühl, dass es Jonathan Demme darum ginge, seine Protagonisten zu Tätern und/oder Opfern zu klassifizieren. Demme analysiert, aber er urteilt nicht. Wäre da nicht ein Funken Licht am Ende des Tunnels, könnte der Film glatt auch von Lars von Trier (
Antichrist) stammen, Parallelen zu den Vertretern des dänischen Dogma-Stils sind durchaus vorhanden. Doch auch wenn “Rachels Hochzeit” in seiner Grundthematik stark an den ähnlich gelagerten “Das Fest” aus dem hohen Norden erinnert, ist das ergreifende Drama von der trockenen Nüchternheit der Skandinavier ein ganzes Stück entfernt. Großartiges leistet Anne Hathaway, die in ihrer bislang wohl besten Rolle mit energiegeladenem Spiel und punktgenauer Mimik die Probleme ihrer facettenreichen Figur greifbar zum Vorschein kommen lässt und geradezu über sich hinauswächst. Die Oscar-Nominierung für Hathaway verwundert demzufolge nicht allzu sehr.
Jonathan Demme interessiert sich nicht sonderlich für die Grundschemata des klassischen Dramas. Wenn er sagt, dass sein Film wie ein “zufällig aufgenommenes Familienvideo” wirken soll, dann drückt sich darin das Ziel aus, größtmögliche Authentizität zu gewährleisten. Und das ist ihm ohne Zweifel gelungen. Darüber hinaus glänzt “Rachels Hochzeit” als komplexe, zuweilen beklemmende Studie mit Kammerspielcharakter, die den Zuschauer immer tiefer in seine Fragen nach moralischen sowie kulturell-sozialen Gesichtspunkten mit einbezieht und herausragende schauspielerische Leistungen auffährt. Wer beim Lesen des Filmtitels allerdings eine leichtfüßige Beziehungskiste á la Hollywood erwartet, der sei gewarnt: Für den entspannten Abend zu zweit empfiehlt sich der Film aufgrund seines schweren Themas und der hohen künstlerischen Ansprüchen geschuldeten Sperrigkeit, die hier und da mitschwingt, eher nicht.