(USA, 1976)
„When and if fascism comes to America it will not be labeled 'made in Germany'; it will not be marked with a swastika; it will not even be called fascism...“
(New York Times, 1936)
„It's not safe. It's very dangerous, be careful!“
Die beiden Weisheitszähne mussten weg, kein Drama, sagte die Zahnärztin. Vorher noch mal eben schnell was abschleifen, keine Angst, da passiert nix. Zwei Sekunden später sprang ich im Dreieck. Dass die Schlächterin mit Doktortitel danach mit dem Schaber kam und mir zum zweiten Mal wahrlich auf die Nerven ging, machte das Maß voll. Sir schaute erst mich, dann die Assistentin mit großen Augen an: "Also, da dürfte doch jetzt eigentlich überhaupt nix weh tun!" Ich floh auf nimmer wiedersehen aus ihrer Praxis und fluchte, sie solle es nicht wagen, für diese Folter auch noch eine Rechnung zu schicken.
Seitdem bin ich bei einem Zahnarzt Kunde, der mich behandelt wie ein rohes Ei. Er erklärt jeden Handgriff und warnt mich vor, bevor etwas wehtun könnte. Trotzdem habe ich manchmal diese verrückte Vision, dass er mich eines Tages durchdringend anblickt und fragt: „Sind sie außer Gefahr?“
Was Dustin Hoffman auf dem Folterstuhl in
Marathon Man (1976) passiert, kann jeder erahnen, nachfühlen. Jeder. Deshalb flüchteten bei der Testaufführung die Zuschauer in Scharen aus dem Kino. Wie ist e
s vom Werwolf zerfleischt oder vom Axtmörder erschlagen zu werden? Keine Ahnung, tut aber vermutlich saumäßig weh. Wie lebt es sich so als Vampir oder Zombie? Kein Schimmer, ist aber vielleicht mal was anderes als jeden Tag die scheiß Arbeit und der verdammte Chef.
Aber Laurence Olivier mit dem Bohrer in der Hand, im gespenstischen Gegenlicht der Schreibtischlampe, mit diesem leeren Folterknechtausdruck im Gesicht und diesem Adolf-Eichmann-Kassengestell auf der Nase – Herr im Himmel, gibt es etwas furchteinflößenderes?! Das war Horror, der in jedem Kopf auf Erfahrung stößt und sich dort festfrisst, bis man glaubt selber auf dem Stuhl zu sitzen.
Es gibt Menschen, die reduzieren diesen Film auf die berühmt-berüchtigte Foltersequenz. Was für ein Frevel.
Marathon Man ist ein Klassiker des Polit- und Paranoia-Thrillers, ein Musterexemplar seiner Gattung, erstklassig in allen Belangen. Die chaotischen Bedingungen seiner Entstehung sind legendär, doch umso brillanter war das Ergebnis. Er gehört, neben
Midnight Cowboy (
Asphalt Cowboy, 1969) zu den gelungensten und bekanntesten Filmen von Regisseur John Schlesinger.
In der Romanadaption von William Golding gerät der Geschichtsstudent und Hobbyläufer Babe Levy (Dustin Hoffman) in ein Intrigennetz, gesponnen von Geheimorganisationen und Nazischergen. Es beginnt mit dem Tod seines Bruders Doc (Roy Scheider), den er bis dato für einen normalen Geschäftsmann hielt. Als ihm sein Partner (William Devane) eröffnet, Doc habe für eine ominöse Abteilung gearbeitet, die all die Jobs übernimmt, die FBI und CIA zu dreckig sind, und dass seine Mörder nun hinter ihm her seien, beginnt der endlos scheinende Alptraum, in dem Babe wirklich um sein Leben rennen muss. Dabei wird er die Wege des ehemaligen KZ-Arztes Christian Szell (Laurence Olivier) kreuzen. Wir haben es bereits erwähnt: Es wird eine schmerzhafte Begegnung, physisch und symbolisch.
Marathin Man ist in jeder Hinsicht ein glorioser Thriller der mutigen Siebziger. Obgleich ein Hollywood-Produkt, erdacht und gemacht für das breite Publikum, ist er anspruchsvoll, verlangt Geduld und Aufmerksamkeit. Wie der arme Babe soll sich der Zuschauer in diesem Labyrinth verlaufen, durch die Szenen und Schauplätze hetzen, sich auf die Suche machen nach einer Spur, einem Hinweis, einem Hauch einer Ahnung.
Bis die Handlung erst einmal in Gang kommt, dauert es eine ganze Weile. Der Film beginnt mit einer Sequenz, die man erst später versteht, viel später. Dann sieht man Babe in der Uni, wie er versucht seine Dissertation über „politische Tyrannei“ durchzuboxen und dabei an seinen Vater erinnert wird, der in der McCarthy-Ära unter die Räder der Propaganda kam und sich das Leben nahm. Man sieht Doc, wie er mit zwielichtigen Gestalten spricht, einem Bombenanschlag entgeht und in einem Pariser Hotelzimmer um sein Leben kämpft. Der Zuschauer staunt nicht schlecht, als er eines Tages vor Babes Tür steht und der anscheinend keine Ahnung hat vom eigentlichen Beruf seines Bruders. Und was hat der alte Mann mit dieser bösartigen Aura damit zu tun, der von Uruguay nach New York aufbricht, um dort Diamanten aus einem Bankschließfach zu holen und sich nachts mit Doc trifft?
All diese Einzelteile, all die Szenen auf die man sich vorerst keinen Reim machen kann, bereiten den Boden für die beklemmende Atmosphäre, die den ganzen Film durchzieht und einen hypnotischen Sog erzeugt, der einen immer wieder erfasst, egal wie oft man den Film bereits gesehen hat.
Marathon Man ist ein Puzzle, dessen Bild sich lange nicht zeigen will. Zusammengehalten wird es aber von Anfang an durch die unheilvollen Bilder und die schaurige Musik von Michael Small, Mr. Sound of Paranoia. Fast die Hälfte der Handlung spielt in der Schwärze der Nacht, und dafür gibt es keine bessere Untermalung als Smalls gespenstische Streicher und Synthesizer. Und wenn Laurence Olivier Dustin Hoffman verhört und immer wieder, mit bösartiger Penetranz die gleiche Frage stellt („Is it safe?“), dann wissen wir auch nicht mehr als der arme Hoffman, was die ganze Szene noch verstörender macht, als sie ohnehin schon ist.
Die Parallelen zu Alfred Hitchcocks
North by Northwest (
Der unsichtbare Dritte, 1959) waren offensichtlich. Doch während Hitchcock noch Raum für Humor lies, schickt Schlesinger sein Publikum auf ein zweistündige Geisterbahnfahrt, auf der es wirklich nichts zu lachen gibt. Während der gejagte James Cagney bis zum Schluss sein Werbefritzelächeln nie ganz verliert, haben sich bei Dustin Hoffman alle Torturen in Körper und Körpersprache graviert.
Die Szenen, in denen Szell Babe foltert und dabei seiner Profession als Zahnarzt treu bleibt, waren ursprünglich noch härter. Doch die Testdurchläufe sprachen eine deutliche Sprache. Es ist auch so schon brutal genug, gerade die zweite Szene hält man kaum aus. („Ich werde nicht wieder auf diesem Zahn herum bohren, der Nerv stirbt bereits. Ein gesunder, frischer Nerv ist viel empfindlicher.“)
Nicht nur, dass der Zuschauer diesen Schmerz körperlich nachempfinden kann, es ist auch eine symbolische Szene: Gerade nachdem wir festgestellt haben, dass die vermeintlich Guten mit alten Nazisäcken gemeinsame Sache machen, ist eine wahrlich schmerzhafte Erkenntnis. In Martin Ritts
The Spy Who Came in From the Cold (
Der Spion, der aus der Kälte kam, 1966) ging es um die Verstricken des britischen Geheimdienstes, in Ronald Neames
The Odessa File (
Die Akte Odessa, 1974) spielte sich alles in Deutschland ab. Doch die verhassten Nazis mit den eigenen Leuten paktieren zu sehen, das traf im wahrsten Sinn des Wortes den Nerv. Und gerade heute wissen wir, dass es für solche Geschäfte keine fiktive Geheimorganisation braucht.
In seiner zeitgenössischen Kritik bezeichnete Roger Ebert solche Geschichten als Fantasie. Heute weiß man es leider besser.
Marathon Man gehört, ähnlich wie Sidney Pollacks
The Three Days of the Condor (
Die drei Tage des Condor, 1975) zu den Politthrillern, die schon während der Dreharbeiten von der Realität überholt wurden. Nur in diesem Fall wusste das die Öffentlichkeit noch nicht. 1979 gründete die amerikanische Justizbehörde das Office of Special Investigation (OSI), um in den USA lebende Altnazis aufzuspüren und auszuweisen. Dabei handelte es sich nicht nur um NS-Schergen, die nach dem Krieg unbemerkt ins Land gelangten, sondern auch zwecks konstruktiver Zusammenarbeit inoffiziell eingeschleust wurden. Im Gegenzug zu Informationen (meistens verpfiffen die sauberen Herren ihre braunen Ex-Kameraden) garantierte man ihnen Straffreiheit. Das geht aus einem Bericht hervor, den das Justizministerium 1999 in Auftrag gab und 2006 fertig gestellt wurde. (Mit der Veröffentlichung ließ man sich jedoch vier Jahre Zeit.)
So grauenhaft die Folterbilder und so deprimierend der politische Hintergrund auch ist, so brillant sind Schlesinger viele anderen Szenen gelungen. Zum Beispiel die, wo der gemarterte Babe durch die nächtlichen, verwahrlosten Straßen hetzt, gejagt von den Agenten und der Hintergrundmusik gleichermaßen. Oder die Sequenz, in der Szell auf der 5th Avenue seine Diamanten verkaufen will und von zwei ehemaligen KZ-Gefangenen erkannt und gejagt wird. Oder der Showdown im Wasserwerk, wo es Zeit ist für Rache.
Um diesen düsteren Film herum entstanden einige schöne Geschichten. Am schönsten ist vielleicht die von Laurence Olivier, der um ein Haar nicht an Bord gewesen wäre. Er litt Mitte der Siebziger Jahre an Krebs und galt somit als unversicherbar, Paramount Pictures verweigerte zuerst die Zusammenarbeit. Es war mal wieder der schillernde Produzent Robert Evans, der alle Hebel in Bewegungen setzte. Bis zu seinem Tod beharrte er darauf, dass es der erste und letzte Film gewesen sei, wo er für alle Hauptrollen sämtliche Schauspieler bekommen habe, die ihm von Anfang an vorschwebten. Während der Dreharbeiten bildete sich der Krebs zurück, Olivier lebte noch dreizehn Jahre.
Mit Olivier und Hoffman trafen auch grundverschiedene Schauspielphilosophien aufeinander. Olivier schauspielerte nach alter Schule, Hoffman hatte sein Method Acting bei Lee Strassberg gelernt. In den Szenen, in denen Hofmann laut Drehbuch nicht geschlafen hat, hielt er sich tatsächlich wach und kam völlig übernächtigt zum Set. Oliviers Replik wurde fast so berühmt wie der „Is it safe?“-Satz: „Junger Mann, warum versuchen Sie es nicht einfach mit Schauspielern? Das ist doch viel einfacher.“ (Es gab allerdings auch Gerüchte, Hoffman habe es am Abend zuvor im legendären Studio 54 einfach nur etwas zu lange krachen lassen.)
Nach dem Dreh schenkte Olivier dem jungen Mann (damals schon fast Vierzig) eine Gesamtausgabe von Shakespeare und gab ihm ein paar Kostproben. Hoffman ist heute noch den Tränen nahe, wenn er davon erzählt.
Der Film, dieser Zwei-Stunden-Marathon, endet in einem düsteren Finale. Ein Duell, bei dem es nur einen Sieger geben kann und Niederlage Vernichtung bedeutet. Keine Gefangenen, du oder ich. Ein Finale, so kalt inszeniert wie die Rache, die man am besten kalt serviert. Es ist, als steckte einem jede Filmminute in den Knochen.
Marathon Man ist ein so großartiger Film, und doch ist man, ähnlich wie seine Hauptfigur, ein bisschen froh dass es endlich vorbei ist.