„Es ist doch bloß ein Film…“
In den meisten Fällen möchte man diesem Einwurf Recht geben. Ja, was man gerade gesehen hat ist in der Tat nur ein Film, eine Verbindung von Bild und Ton, präsentiert auf einer Leinwand oder einem Bildschirm – nichts, was beim Zuschauer körperliche Schäden verursachen oder ihn irgendwie tätlich angreifen würde.
Und gerade bei vielen Werken aus dem Genrebereich „Horror“ ist es doch so, dass man sich diese in erster Linie mit einer Gruppe von Freunden zu Gemüte führt, um zwei schreckhafte aber auch spaßige Stunden zu erleben und am Ende eben Folgendes anzufügen:
„Es war doch bloß ein Film…“
Dass sich der Horror aber manchmal auch seinen Weg von der Leinwand in die Köpfe der Zuschauer bahnen kann, um dort längerfristig zu verweilen und gegebenenfalls sogar als eine echte Erfahrung angesehen zu werden, haben in der Vergangenheit schon Filme wie Tobe Hoopers „
Blutgericht in Texas“ (1974) oder das „Blair Witch Project“ (1999) bewiesen. Während der Erstgenannte durch seine dreckig-realistische Atmosphäre einen Grundbaustein für das heutige Terror-Kino gelegt hat, ging das „Blair Witch Project“ noch einen Schritt weiter, indem es auf eine lineare Handlung verzichtet hat, und einfach drei Protagoni
sten mit einer Handkamera in ein unheimliches Szenario warf, und so die Grenze zwischen
Zuschauen und
Erleben für 90 Minuten vollständig außen vor ließ.
Nach diesem Film folgten noch weitere gute bis ansehnliche Streifen wie „
Cloverfield“ (2008) oder „
[Rec]“ (2007), die nach einem ähnlichen Muster gestrickt waren, aber den wahren Schrecken durch den Einsatz von Spezialeffekten ein wenig verwässert haben.
Nun, fast eine Dekade nach „Blair Witch Project“, schafft es doch tatsächlich nochmal ein Genre-Film mit dieser dokumentarischen Formel den Zuschauern das Fürchten zu lehren. Die Rede ist dabei von „The Poughkeepsie Tapes“.
Ein bestialischer Serienkiller treibt in den 90ern im New Yorker Umkreis sein Unwesen. Seine Taten lassen sich keinem spezifischen Muster zuordnen, da sowohl Frauen und Männer als auch Kinder zu seinen Opfern gehören, denen er nicht nur im Dunkel der Nacht, sondern auch durchaus am hellichten Tag auflauert.
Nach langer Tätersuche sind 2001 die Ermittler in einem Haus auf viele Hundert Videobänder gestossen, die zusammen eine Laufzeit von 240 Stunden ausmachen und das blutige Treiben hautnah aus der Perspektive des Killers dokumentieren…
„The Poughkeepsie Tapes“ nimmt im Prinzip die Rolle einer typischen TV-Kriminal-Dokumentation ein, wobei zu Beginn diverse Ermittler und Profiler darauf verweisen, dass es sich beim Inhalt des gefundenen Videomaterials wohl um das Verstörendste handelt, was ihnen je unter die Augen gekommen ist. Sehr zu Beginn ist ein Ausschnitt aus einem der Videos zu sehen, in welchem eine Prostituierte einen großen Ballon aufbläst und zaghaft auf diesem Platz nimmt. Der Täter fordert sie schließlich auf, auf dem unstabilen Material auf und ab zu hüpfen. Als die Frau irgendwann damit aufhört, schreit dieser sie in einem psychotischen Tonfall an. Und schon allein die Stimme des Killers lässt beim Zuschauer den ersten Schauer über den Rücken laufen, dem im Verlauf des Streifens noch einige folgen sollen. Und damit ist nicht die angenehme
Grusel-Gänsehaut gemeint, die sich vielleicht sonst beim Genuss aus dem Fundus der üblichen Kinoschocker ausbreitet – nein, dieser Schrecken hat einen ekelhaft realistischen Touch, so als ob Horrorfilme wie „
Saw“ (2004) oder „
Das Schweigen der Lämmer“ (1991) auf einmal den Schutz der ausgeklügelten Story hinter sich lassen und sich ihren Weg ins wahre Leben bahnen. Die Essenz des Schreckens.
Über den Killer selbst erfährt der Zuschauer nichts (es besteht eine Anlehnung an den realen Fall von Kendall Francois, der in den 90ern acht Prostituierte in Poughkeepsie ermordet hat) außer dem, was man aus dessen Taten ableiten kann – und das wäre ohne Zweifel, dass es sich in seinem Fall um eine zutiefst sadistische Person handelt, die die Angst der Opfer bis zum Äußersten auskostet, um deren Leben dann ein grausiges Ende zu bereiten.
Alles, was einem sonst schon so auf der Leinwand die Nerven blank gelegt hat, bekommt durch das reale Szenario eine neue Dimension, die aber bestimmt nicht jedermanns Sache sein dürfte. Wer sich also nur auf einen lockeren Filmabend eingestellt hat, sollte „The Poughkeepsie Tapes“ meiden…er ist ungemütlich, er ist erbarmungslos und vor allem: er wird sich noch eine Weile im Gedächtnis einbrennen.
Da das Werk, wie bereits erwähnt, wie eine Dokumentation aufgebaut ist, macht es wenig Sinn, auf den Verlauf der Geschichte einzugehen.
Um trotzdem einen Eindruck zu vermitteln, warum „The Poughkeepsie Tapes“ nichts für schwache Nerven ist, sollen jetzt einige Szenen aus dem Film hervorgehoben werden, die selbst dem abgebrühten Rezensenten zugesetzt haben.
So hält der Killer z.B. tagsüber mit seinem Auto in einer gemütlichen Vorstadt-Siedlung an und spricht mit einem allein vor einem Haus spielenden Kind. Dieses erwidert, dass es doch nicht mit Fremden sprechen soll, und nach ein paar wenigen weiteren Worten wirbelt die Kamera herum. Man kann einen stumpfen Schlag fast spüren und folgt dem Psychopathen hastig zum Auto. Irgendwie ist durch die hastige Situation noch eine Spur von Hoffnung vorhanden, dass man mit seiner Vermutung doch falsch liegt - bis die Hintertür des Fahrzeugs geöffnet und das bewusstlose Kind auf den Rücksitz gelegt wird. Weitere Details erspart Regisseur John Erick Dowdle dem Zuschauer in diesem Fall zum Glück, was aber das Grauen nur wenig mildert.
In einer weiteren markanten Szene schleicht sich der Täter in ein Haus, während die junge Bewohnerin unter der Dusche steht. Er schleicht vor dem Duschvorhang herum und positioniert, nachdem er weitere Stimmen hört, die Kamera im Vorzimmer und versteckt sich im Kleiderschrank.
Kurz darauf betritt die Frau den Raum und will sich anziehen…ob nun an dieser Stelle etwas geschieht, soll nicht verraten werden, aber allein die geschilderte Situation und deren Umsetzung sind Horror in Reinkultur!
Später im Film fleht die Mutter eines vom Killer entführten Opfers via Fernsehen, dass ihre Tochter freigelassen wird. Man sieht die verzweifelte Frau anschließend vor ihrem Haus stehen, während sich ihr eine Kamera nähert. Eine freundliche Männer-Stimme fragt sie, ob sie etwas für sie tun könne. Erst durch das anschließende, diabolische Kichern leuchtet der Mutter auf, dass sie soeben mit dem Entführer ihrer Tochter gesprochen hat…
Mit „The Poughkeepsie Tapes“ haben die Brüder John Erick Dowdle (Regie, Schnitt und Drehbuch) und Drew Dowdle (Produktion und Drehbuch) einen kleinen aber feinen – und vor allem: gemeinen – Independent-Schocker vorgelegt, der aus seinen minimalen Mitteln das Maximum herausschöpft und damit das Spektakel „
Cloverfield“ weit hinter sich lässt.
Zuletzt haben die beiden Talente das leider recht schwache „
[Rec]“-Remake „Quarantäne“ (2008) inszeniert, das ihnen aber aufgrund des respektablen Erfolgs zumindest die Türen zu weiteren größeren Projekten geöffnet haben dürfte - obwohl ja die Größe in Sachen „Horror“ oftmals sogar kontraproduktiv ist…
Wer sich also auf eine realistischere Herangehensweise an die Serienkiller/Horror-Thematik einlassen kann, wird womöglich mit mehreren schlaflosen Nächten „belohnt“ werden, in denen sich der Zuschauer das anonyme Grauen hinter die Gardinen oder unter das Bett malt und mit hochgezogener Decke murmelt:
„Es war doch bloß ein Film…“