von Asokan Nirmalarajah
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Coen-Brüder Joel und Ethan eines Tages dem Westernfilm zuwenden würden. Nicht nur, dass sich unter ihren vielen atemberaubend detailfreudigen wie schwindelerregend stilsicheren Genre-Dekonstruktionen bereits unorthodoxe, unberechenbare Neo-Western wie
Fargo (1996) und
No Country for Old Men (2007) tummeln. Das verschrobene Figurenpersonal, die konventionellen Erzählmuster und die reiche Ikonografie des klassischen Westerns ziehen sich auch durch mehrere der idiosynkratischen Independent-Werke der Regisseure, von
Arizona Junior (1987) über
Miller’s Crossing (1990) bis hin zu
The Big Lebowski (1998). Gerade die Affinität der Coens für moralische, wenn nicht gar naiv-optimistische Hauptfiguren, die in einem amoralischen, kontingenten Universum unerklärlichen Mächten ausgesetzt sind, deren Ausmaße sich ihnen entziehen, prädestiniert sie für ein Genre, das an moralischen Fragen um Schuld und Sühne an und jenseits der Grenze der Gesetzlosigkeit interessiert ist. Mit ihrem 15. abendfüllenden Spielfilm und ihrer dritten Literaturverfilmung legen die Filmemacher nun einen Western vor, der durch seine K
onventionalität überrascht und doch mit seinen charmanten Details Zuspruch findet. Die amerikanischen Kritiker streiten sich zwar noch darüber, ob
True Grit (2010), eine werkgetreue Leinwandadaption des gleichnamigen Romans von Charles Portis aus dem Jahre 1968, ein ernst gemeinter, traditionsbewusster Genrebeitrag ist oder doch einer der doppelbödigen Selbstparodien der Coens. Das amerikanische Publikum aber hat den atmosphärisch fotografierten und bedächtig erzählten Bildungsroman über die Abenteuer eines jungen Mädchens bereits euphorisch empfangen und zu einem der kommerziell erfolgreichsten Western gemacht.
Erzählt wird die Geschichte des 14jährigen Mädchens Mattie Ross (Hailee Steinfeld), die von ihrer Familienfarm in Yell County in die Stadt Fort Smith fährt, um den Leichnam ihres Vaters zu identifizieren. Sie erfährt, dass einer der Tagelöhner ihres Vaters, Tom Chaney (Josh Brolin), ihn bei einem Handgemenge erschossen hat und mit seinen Goldstücken zu Pferd ins Indianer-Territorium entkommen ist. Mattie verlangt Gerechtigkeit und erkundigt sich nach den fähigsten Kopfgeldjägern der Stadt. Auf eine eingeschränkte Empfehlung hin bittet sie den U.S. Marshal Reuben J. „Rooster“ Cogburn (Jeff Bridges) darum, ihr bei der Jagd auf Chaney zu helfen. Der für seine kompromisslose Brutalität und seinen exzessiven Alkoholkonsum berüchtigte Cogburn willigt schließlich für ein beachtliches Honorar widerwillig ein. Zusammen mit der dickköpfigen Mattie und dem arroganten Texas Ranger LaBoeuf (Matt Damon), der sich aufgrund eines früheren Verbrechens Chaneys ebenfalls auf dessen Spur befindet, macht sich der nicht mehr ganz zielsichere Revolverheld Cogburn auf, die Räuberbande des skrupellosen „Lucky“ Ned Pepper (Barry Pepper) ausfindig zu machen, der sich Chaney angeblich angeschlossen haben soll…
Wie bei ihrer famosen Cormac-McCarthy-Adaption
No Country for Old Men präsentieren sich die Coens hier einmal mehr als respektvolle wie kompetente Interpreten eines anderen Autoren, mit dem sie bestimmte Vorlieben teilen. Wie der Roman ist auch ihre Adaption nicht sonderlich interessiert an der Handlung, die so erwartungsgemäß abenteuerlich beginnt wie sie unerwartet unspektakulär und nüchtern endet. Im Mittelpunkt stehen die kauzigen, glaubhaft gezeichneten Figuren, die nicht nur die Geschichte des Genres und die der USA nach dem Bürgerkrieg, sondern auch ihre persönlichen Historien auf ihren Schultern tragen. Mit ihrem Hang zu sehr elegant phrasierten, pseudo-philosophischen Monologen, ausgedehnten, hitzigen Wortgefechten und persönlichen Schwächen wie Geld, Alkohol und Sporen bringen sie die recht geradlinige Dramaturgie des Films immer wieder zum Stillstand. Dennoch hat man nicht das Gefühl, der Film würde stagnieren. Das gemächliche Tempo wird kontinuierlich gehalten. Der Ausgang der finalen Konfrontation zwischen den Jägern und dem Gejagten ist berechenbar. Warum dann nicht einfach den mal amüsanten, mal melancholischen Geschichten lauschen, die sich die Figuren am Lagerfeuer oder kurz vor dem nächsten Feuergefecht erzählen? Warum nicht die makellos evozierte Frontierstadt und die schönen Herbst- und Winterlandschaften genießen, die der Stammkameramann der Coens (Roger Deakins) einfängt und die ihr Stammkomponist (Carter Burwell) stimmungsvoll mit Kirchenmusik untermalt?
Dabei vergisst man dann auch recht schnell, dass es sich bei dem Coen-Film um das Remake eines routinierten Westerns von 1969 handelt. Nun liegt die erste Leinwandadaption des Romans,
True Grit - Der Marshal von Regisseur Henry Hathaway zwar bereits Jahre zurück, doch immerhin gewann John Wayne für seine Rolle damals den Oscar für den besten männlichen Hauptdarsteller. Der Film war für Wayne sogar so ein großer Erfolg, dass er die Rolle einige Jahre später in der nach ihr benannten Fortsetzung
Rooster Cogburn (1975) erneut spielte. Das Remake ist allerdings weniger darum bemüht, auch Jeff Bridges zu einem späten Karriere-Oscar zu verhelfen (das besorgte letztes Jahr schon
Crazy Heart, 2009). Das pochende Herz des schnörkellosen Films verkörpert die eigentliche Protagonistin der Geschichte, Mattie Ross, mit viel Energie, Intensität und Leinwandpräsenz gegeben vom neuen Talent Hailee Steinfeld. Neben ihr wird die grundsolide Riege an etablierten männlichen Stars nicht selten zu ungewöhnlich redseligen und unfreiwillig komischen Stichwortgebern mit groteskem Bartwuchs degradiert. Zwischen all diesen abgewrackten Westernhelden, die sich für die Bewahrung ihrer eigenen Reputation gegenseitig über den Haufen schießen, steht eine für den Rest ihres Lebens prägende Konfrontation eines jungen Mädchen mit dem Tod, nicht nur mit dem ihres Vaters, sondern auch mit dem von nahezu allen Männern, denen sie begegnen wird. Das Männergenre des Westerns bleibt also von den feinsinnigen Coen-Brüdern doch nicht ganz unberührt…