„Don't dream it, be it!“
Seit vielen, vielen Jahren schon wünscht sich der Mensch, durch die Zeit reisen zu können. Wohl jeder von uns hat bestimmt schon mindestens einmal einen Gedanken daran verschwendet, wie es wäre, genau zu wissen, was das vom jetzigen Standpunkt aus noch unbekannte Morgen bereithält. Doch auch Reisen in die der Zukunft entgegengesetzte Vergangenheit gehören seit jeher zur längst zum Menschheitstraum gewordenen Utopie vieler in der Gegenwart Wandelnden, die gerne ihre irdischen Wurzeln im Hier und Jetzt vorübergehend in eine andere Zeit, einen anderen Ort verpflanzen würden.
Doch die Träume blieben bisher eben dies, da sich die in unzähligen Science-Fiction-Romanen und -filmen bemühten Zeitmaschinen noch nicht so recht in der Realität durchsetzen konnten. Während also die Wissenschaft munter weiterforscht, scheinen die angehenden Zeitreisenden noch auf unbestimmte Zeit ihr Dasein in der Gegenwart fristen zu müssen.
Aber mitunter geschehen Zeichen und Wunder, die selbst der eher selten um Antwort verlegenen Wissenschaft noch Rätsel aufzugeben in der Lage sind. Solch’ ein Wunder trug sich angeblich in einer fiktiven, auf das Jahr 1975 datierten Gegenwart zu, von der im folgenden berichtet werden soll und in die ich den geneigten Leser – sofern ich darf – nun entführen möchte. Die seltsame Reise beginnt damit, dass das frisch verlobte Pärchen Brad Majors (B
arry Bostwick) und Janet Weiss (Susan Sarandon, „
Elizabethtown“ [2005], „
Im Tal von Elah“ [2007]) sich gerade aufgemacht hat, den ehemaligen Tutor und Freund Dr. Everett (von) Scott (Jonathan Adams) zu besuchen, in dessen Kurs sie sich das erste Mal getroffen haben. Doch die beiden verfransen sich hemmungslos, und zu allem Überfluss veranlasst eine Reifenpanne auch noch das vorzeitige Ende der augenscheinlich schon von vornherein unter keinem sonderlich guten Stern stehenden Reise. Aber Brad – gar nicht dumm – erinnert sich, kurz zuvor ein Schloss passiert zu haben, dessen Bewohner ihnen beiden sicherlich weiterhelfen kann. So folgt Janet ihrem Göttergatten durch die gewittrige Nacht, den Kopf notdürftig mit einer Zeitung gegen den starken Regen abgeschirmt. Und tatsächlich:
Over at the Frankenstein Place brennt tatsächlich ein Licht, weshalb das durchnässte Paar kurzerhand anklopft. Als sich das große Tor schließlich öffnet, sehen sich die Ankömmlinge einem buckligen und reichlich seltsam aussehenden Mann (Richard O’Brien) gegenüber, der nach kurzer Abschätzungszeit die Besucher aus dem Regen in das Innere des imposanten Baus und damit sprichwörtlich in die Traufe holt. Denn heute steigt im schlosseigenen Festsaal eine illustre Party zu Ehren des extravaganten Meisters Dr. Frank-N-Furter (Tim Curry, „
Die drei Musketiere“ [1993]), der nach einer mitreißenden Tanznummer der Partygäste in transsexuelle Erscheinung tritt, um Brad und Janet kurzerhand ganz Frankenstein-like zur Präsentation seiner hauseigenen Labor-Schöpfung Rocky (Peter Hinwood) einzuladen.
Es ist eine seltsame Welt, in die uns der britische Schauspieler, Autor und Komponist
Richard O’Brien in der Folgezeit seiner eigens erdachten
„ROCKY HORROR PICTURE SHOW“ mitsamt Brad und Janet entführt. Zunächst sind sie wieder da, sind sie lebendig, diese Zeiten, in denen B-Movies Hochkonjunktur hatten – jene Filme mit geringem Budget, die sich insbesondere in den wirtschaftlich passablen 1950er-Jahren als Kinounterhaltung für Jugendliche und Autokino-Besucher etablieren konnten. Ungeniert zitiert O’Brien in der Kinofassung seines Bühnenerfolges von 1973 aus dem reichen Fundus an Billig- und Billigst-Produktionen, zieht das ganze aber nicht als bloße Verballhornung auf, sondern als durchaus liebevolle Hommage an eine Filmepoche, in der (Horror-)Filme noch vorwiegend durch ihren Charme denn opulente Schauwerte überzeugten. Vorliegend ist es die auf den ersten Blick skurrile Mischung aus Horror- und Science-Fiction-Elementen, welche sich wie ein roter Faden durch unzählige Gesangs- und Tanzeinlagen schlängelt. So grotesk die extravagante Show der Seltsamkeiten sich auch hier lesen mag, so überzeugend wirkt das letztendliche Produkt auf dem heimischen Bildschirm oder der Leinwand des Programmkinos des Vertrauens. Es ist schlicht das Originelle, der Mut, eine Vorstellung in die Tat umzusetzen, anstatt nur weiterzuträumen, der sich schlussendlich bezahlt machen sollte. Denn zunächst sah 1975 alles danach aus, als ob sich die Parodie zum Rohrkrepierer entwickeln würde, drohte sogar, vorzeitig aus dem Programm genommen zu werden, derart ernüchternd waren die anfänglichen Besucherzahlen. Doch eine hartnäckige kleine, aber feine Fangemeinde, die den Film immer und immer wieder besuchte, leistete Widerstand und bestärkte bald auch die Produzenten darin, an einen Erfolg zu glauben. Umgeschnitten wurde die
„ROCKY HORROR PICTURE SHOW“ sechs Monate später wieder ins Programm genommen, woraufhin Mundpropaganda das Ihrige dazu beitrug, eine immer größer werdende Fangemeinde anzuhäufen, die bisweilen noch heute besteht. Ein Werk, das Filme parodiert, welchen bis heute ein ganz besonderer Charme anhaftet, sollte sich schließlich auch auf leisen Sohlen in diese Reihe einfügen.
Der
Time-Warp –
die Tanznummer des Films schlechthin – ist deshalb bei genauerer Betrachtung durchaus als untypische Version einer Zeitmaschine zu verstehen, denn ab diesem Zeitpunkt fühlt man sich als Zuschauer buchstäblich in die 50er Jahre Horror- und Science-Fiction-Film-Zeit zurückversetzt. Da wäre es also, das eingangs erwähnte Zeichen, das Wunder. Versteckt in einem der schrillsten und verrücktesten Werke der Filmgeschichte, das unter seiner schillernden Oberfläche weitaus mehr ist als „nur“ die gelungene Symbiose von Musical und B-Movie-Fragmenten.
Jim Sharmans Zeitreise (die im übrigen neben
Susan Sarandon in ihren Anfängen als Schauspielerin auch
Meat Loaf [„
The Mighty“ [1998]] präsentierte, bevor dieser überhaupt erst seinen ersten Hit landete) entwickelte sich nämlich relativ schnell zum Ausdruck einer Überzeugung, die auch heute noch Früchte trägt.
Träume nicht – sei es einfach! Es ist diese Wahrheit, welche
Tim Curry am Ende in seiner Paraderolle als transsexueller Dr. Frank-N-Furter singend ausspricht und mit seinem kompletten Auftreten verkörpert, die im Nachhinein betrachtet das komplette Werk in einem anderen Lichte erscheinen lässt. Sich keine Sorgen machen, alle Bedenken über Bord werfen und den Spaß an der puren Freude zelebrieren – all das ist Ausdruck einer Zeit, deren Höhepunkt von unserer heutigen (Gegen)Wart(e) aus betrachtet auch schon wieder eine halbe Ewigkeit zurückliegt.
„I’m going home“, singt Tim Curry kurz vor Schluss und verleiht der einfach nur wunderbaren, frechen und provokanten
„ROCKY HORROR PICTURE SHOW“ damit einen Ernst, den man so wohl vorher nicht vermutet hätte. Begleitet von orchestraler Musik, einfühlsam gefilmt von
Peter Suschitzky, schreitet der in Strapsen und Mieder gekleidete Furter in das grelle Scheinwerferlicht. In seine Welt, wo er hingehört. Es ist der Versuch einer leisen Flucht einer Person, die ihr Leben nicht geträumt hat, sondern schlicht so war, wie sie war. Ohne Bedenken, ohne Sorgen, bis zum bitteren Ende. Eine Zeitreise im kleinen Stil, eine Flucht in das, was einen ausmacht.