Hintergrund dieser Mischung aus Dokumentation und Fiktion ist der Bau des Drei-Schluchten-Staudamms in China zwischen 1994 und 2006. Der drittlängste Fluss der Welt, der Jangtsekiang (auch Jangtse oder Yangtze), wurde aufgestaut – eine Maßnahme, die sowohl Befürworter als auch harte Gegner fand. Die chinesische Regierung erhoffte sich mit diesem Image-Projekt hauptsächlich eine Kontrolle über die Hochwasserkatastrophen, Energiegewinnung und eine verbesserte Schiffbarkeit durch die Erhöhung der Transportkapazitäten. Ob das alles auch wirklich durchdacht war, bezweifeln die Kontrahenten: der Staudamm wurde in ein von Erdbeben gefährdetes Gebiet gebaut und die aus Steuergeldern finanzierten Baukosten nahmen gigantische Dimensionen an. Umweltschäden, die Überschwemmung von archäologischen Ausgrabungsstätten und Zwangsumsiedlungen waren weitere große Kritikpunkte.
“Still Life” ist aus dokumentarischer Sicht ein wichtiger Beitrag, denn der Film vermittelt authentisch, wie das Staudamm-Projekt in das Leben vieler Menschen eingegriffen hat. Wie trostlos die Stimmung war in den Gegenden, die künftig überschwemmt werden sollten. Die Originalschauplätze zeugen von Schutt und Trümmern. Es ist weniger die Kameraführung, als die Motive und die Landschaft selbst, die erschrecken, weil alles so absurd und traurig ist.
Aus Sicht eines Spielfilms lässt ”Still Life” leider sehr zu wünschen übrig. Die Handlung ist schnell erzählt:
Ein Minenarbeiter sucht nach sechzehn Jahren Frau und Tochter. Eine Krankenschwester sucht ihren Mann, der sich seit zwei Jahren nicht mehr bei ihr hat blicken lassen. Beide Handlungsstränge werden nicht miteinander verknüpft, sondern einfach hintereinander erzählt. Nicht gerade originell. Auch hat die Story kaum etwas mit dem Bau des Staudamms zu tun, dieser bietet nur die stimmungsvoll-triste Kulisse.
Der Film spricht einige wichtige Themen wie Frauenhandel, Prostitution, Kriminalität und die Gefahr des Bergbaus an. Auch erhält der Zuschauer einen Einblick ins Arbeitermilieu Chinas. Doch “Still Life” streift all dies nur an der Oberfläche, zeigt keine Tiefe, ist nicht so informativ, wie es das Thema zulassen und der Zuschauer erwarten würde. Um dem Mut des Films dennoch gerecht zu werden, muss gesagt werden, dass die chinesische Zensur wohl nichts Kritischeres zugelassen hätte. So musste sich der Film auch der Zensur unterwerfen, konnte aber im Wesentlichen den Schnitt beibehalten.
Die englische Übersetzung “Still Life” bezieht sich wohl auf die langsame Kameraführung und Erzählweise. Eine Übertragung der Merkmale eines “Stilllebens” aus der Malerei ist nicht offensichtlich erkennbar. Die Übersetzung des Originaltitels, der auf deutsch in etwa “Die guten Menschen von den drei Schluchten” heißen würde, trifft die Message des Films besser und wirkt nicht gewollt poetisch-künstlerisch.
In Venedig wurde “Still Life” mit dem Goldenen Löwen 2006 als “Bester Film” ausgezeichnet. Die Pressestimmen, die wohl auch die Beurteilung der Jury wiedergeben, beziehen sich weitestgehend auf den Wert des Films als “Denkmal” und seine Bedeutung als Dokumentation über die Auswirkungen des Staudamm-Baus. Filmische Ausprägungen wie Schauspiel, Dialoge oder Dramaturgie scheinen hierbei keine Rolle gespielt zu haben.
Fazit: Eine Einordnung des Films “Still Life” in gewohnte Kategorien ist schwierig. Als Spielfilm kann er in keiner Weise überzeugen. Als Bild-Dokumentation hingegen spiegelt er in authentischer und wirkungsvoller Weise das Leben der vom Staudamm-Bau betroffenen Menschen wider, zeigt einmalige Bilder vor der Sintflut, die niemand jemals wieder wird filmen können und hinterlässt einen nicht unkritischen Nachgeschmack auf die Politik Chinas.