ANDERLAND beginnt wie ein frostiger Horrorfilm, macht aber gleicht zu Beginn klar, das der Schrecken eher unterschwellig präsentiert und nicht in Gestalt von Monstern oder Killern visualisiert wird. Neben einem U-Bahn-Gleis sehen wir ein sich küssendes Pärchen, eng umschlungen und hemmungslos schmatzende Geräusche von sich gebend. Doch das Paar hat etwas Totes an sich, der lang andauernde Kuss nichts zärtliches oder leidenschaftliches – etwas stimmt einfach nicht in diesem Bild. Dazu passend steht unweit der beiden ein verunsicherter, entnervter Mann, der sich als Ausdruck verzweifelter Hilflosigkeit vor die U-Bahn wirft. Schnitt. Der gleiche Mann (ohne Bart und weniger geschunden aussehend) befindet sich nun in einem Bus, der durch eine scheinbar unendliche Ödlandschaft fährt. Er ist der einzige Fahrgast und steigt an einer tristen Haltestelle aus. Hier wird er freundlich empfangen von einem älteren Herren, der den verwirrten Mann in ein Auto steigen lässt und ihn in ein neues Leben fährt. In einer nicht näher benannten Stadt werden ihm Wohnung sowie Arbeitsplatz zugewiesen – doch Andreas weiß nicht so recht, wie ihm geschieht.
Ob er sich an frühere Ereignisse erinnert ist unklar, anhand seines Verhaltens aber unwahrscheinlich. In seinem neuen Heimatort sind die Leute friedlich, offenherzig und freundlich gesinnt, doch es scheint keine Kinder und Jugendlichen zu geben. Auch in einer Beziehung mit der hübschen Anne Britt (Petronella Barker) f
indet Andreas keine echte Erfüllung: der Sex ist mechanisch und wie alle anderen Bürger auch scheint Anne Britt keine Persönlichkeit zu besitzen. Doch es scheint kein Entkommen zu geben aus der geheimnisvollen Stadt – nicht einmal durch den Freitod...
Der zweite international beachtete Film des Norwegers Jens Lien besticht nicht nur durch seine intelligent aufgestellte Prämisse und deren Vieldeutigkeit sondern brilliert auch durch außerordentlich perfektionistische Bildkompositionen. Irgendwo zwischen David Lynch, Jean-Paul Sartre und Franz Kafka lässt sich die tiefschwarze Parabel einordnen, um wenigstens einen ungefähren Eindruck zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund lassen sich anhand des Films mannigfaltige Themenkreise verhandeln, seien sie philosophischer, soziologischer, politischer oder ethischer Natur. Lien begeht nicht den Fehler, seine spannungsvoll aufgebauten Mysterien zu erklären oder mit unnötiger Konkretisierung zu verwässern. So ergibt sich eine Unberechenbarkeit, aus der ANDERLAND nahezu atemlose Suspense kitzelt. Wenn Andreas auf offener Straße das Ergebnis eines Selbstmordes beobachtet, ein Mann hat sich aus dem Fenster gestürzt und wurde auf einem gezackten Metallzaun aufgespießt, bildet sich keine Menschentraube aus Schaulustigen. Wenn er sich Büro bei einem Unfall den Finger abtrennt und das Blut geradezu sprudelt, reagieren die Arbeitskollegen unaufgeregt und sachlich. Diese entrückten Momente gewinnen auch durch die exzessiven Gewaltspitzen an Schärfe und kreieren leichtfüßig eine ungemütliche, kafkaeske Atmosphäre. Der mal dröhnende, mal leise, mal spannungsvoll aufgeladene Score untermalt die dynamischen Kamerafahrten und kristallklaren Bilder von beeindruckender Tiefenschärfe überaus einfühlsam.
Allem Anschein nach ist Andreas nach seinem Selbstmord wohl in der Hölle gelandet. Oder im Himmel, wo er sich nicht zurecht findet. Das clever konstruierte Drehbuch schlägt dieser denkbar einfachen Leseart aber ein Schnippchen, die morbide Eingangssequenz wiederholt sich. Andreas wählt den Freitod als letzten Ausweg, denn mit dem Auto ist der mysteriöse Ort nicht zu verlassen. Doch die Ausführung scheint unmöglich und spätestens ab diesem – entsetzlich plastisch geschilderten - Moment verdichtet sich ANDERLAND endgültig zum verstörenden Horror-Trip, den ein David Lynch nicht suggestiver und alptraumhafter auf Zelluloid gebannt hätte. Dieser tiefe Blick in den Abgrund des postmodernen Menschen und die Gesellschaft, in der er existiert, droht dank der hervorragenden Darsteller niemals zu einer kalten, analytischen Versuchsanordnung zu werden. Petronella Barker als Gefühls-Zombie und Trond Fausa Aurvaag in der Hauptrolle liefern intensive Leistungen ab und überraschen den deutschen Zuschauer mit frischen Gesichtern aus Skandinavien. Jens Lien liefert nach dem grandios lakonischen Independent-Kleinod „Johnny Vang“ einen weitere intelligenten Film ab, den man getrost als das Werk eines noch jungen und eher unentdeckten Meisters bezeichnen darf.