Wenn das mein Schicksal ist - was hat dann dafür gesorgt, dass es auch wirklich eintritt?
Hastig und schon völlig außer Atem nimmt man die letzten Schritte, die zum U-Bahnsteig hinab führen, streicht sich mit der Hand ein paar verirrte Haarsträhnen aus den Augen und erkennt, dass man den Zug gerade verpasst hat. Zum ersten Mal in seinem bis dato so pünktlichen Leben. „Hey, du hast da was verloren“, hört man eine Stimme hinter sich und nimmt wortlos das dargereichte Buch entgegen. Das Buch, das man kurz vorm Losgehen zu Hause noch so hektisch gesucht und weswegen man schließlich seine Bahn verpasst hat. „Hey, das habe ich übrigens auch gelesen; warte erst einmal ab, bis du beim Mittelteil angelangt bist, das haut dich um…“ Man kommt ins Gespräch mit dieser einem doch so fremden Person und merkt gar nicht, dass die nächste U-Bahn längst eingefahren ist. Jahre später fragt man sich, wodurch diese eine besondere Person in das eigene Leben getreten ist. ‚Zufall!’, will man zuerst denken, und dann erinnert man sich an dieses eine Buch, welches für einen kurzen Moment das Schicksal seines Besitzers in die Hand genommen und dessen Leben dadurch so komplett verändert hat.
„
Secret“ erzählt genau jene Geschichte, in der durch die Liebe zur Musik und einem wundersamen Klavierstück zwei Menschen zueinander finden, die sich normalerweise niemals begegnet wären.
Als der musikalische Teenager Jay durch die
Gänge seiner schon baufälligen Schule geht und ein ihm unbekanntes Lied hört, folgt er diesen Klängen und landet schließlich in dem alten Klavierraum, wo er das erste mal auf das Mädchen Rain trifft. Seit diesem Moment herrscht zwischen ihr und Jay eine ganz besondere Anziehungskraft. Auf die Frage hin, welche Melodie Rain denn gespielt hat, die sie und Jay zusammengeführt hat, flüstert sie nur:
„That’s my secret!“ Und nicht nur dieses Lied, welches das Schicksal der beiden auf so magische Weise in die Hand genommen zu haben schien, sondern auch Rain selbst umgibt ein ganz besonderes Geheimnis.
Die Geschichte ist wie ein modernes Märchen – und zauberhaft auf eine so zarte, unaufdringliche Weise, dass es einen unmerklich in seinen Bann zieht. Das Fantastische, Mystische, ist weder zudringlich noch so richtig fassbar, sondern wird nur dann und wann in kleinen Portionen eingestreut. Dies wirft im Laufe der Handlung Fragen auf, die aber eher unbewusst für mehr Rätselhaftigkeit und somit Spannung sorgen, als dass sie Verständnislosigkeit hervorrufen. Andeutungen und Hinweise sind so fein gesetzt, dass sie die ganze Zeit über im Hintergrund bleiben und zunächst keiner Erklärung bedürfen. Die Entschlüsselung im Nachhinein ist somit umso bewegender. Dramaturgisch ist „
Secret“ somit sehr ansprechend ausgearbeitet. Die ruhige Handlung, die in den ersten beiden Dritteln des Films durch ihre feinfühlige Erzählweise besticht, erfährt später eine unvermittelte, aber nicht zu schockierend-plötzliche Wendung, die die Spannung stetig anwachsen lässt und den Zuschauer bis kurz vor Schluss mit immer wieder neuen Fragen, aber befriedigenderweise gleichzeitig auch genauso vielen Antworten konfrontiert. Je weniger man über diesen Film im Vorhinein weiß, desto besser – der Überraschungseffekt ist wunderbar, wenn man noch nicht einmal das Genre kennt.
Hauptdarsteller Jay Chou gibt mit diesem Projekt sein Regiedebut. Der in Europa wohl kaum bekannte Superstar aus Fernost, dessen Name einem hierzulande höchstens durch „
Der Fluch der goldenen Blume“ im Gedächtnis sein wird, zieht mit „
Secret“ alle Register und verarbeitet gekonnt seine vielseitigen Talente und Interessen. Als Komponist, der in China vor allem für seine R’n’B- und Popmusik bekannt ist, stiftet er Teile der Filmmusik und macht „
Secret“ gleichzeitig zur Ode an seinen Lieblingsmusiker Frederick Chopin. Als Drehbuchautor und Regisseur entwirft er eine liebevoll und feinfühlig konstruierte Story, die er in ebensolcher Weise umsetzt. Als Schauspieler, dem ein minimalistischer Stil nachgesagt wird, passt er perfekt in seine Rolle. Die Figur des schüchternen Schülers, der seine großen Gefühle einzig über seine Hände und somit meistens durch das Klavierspiel zum Ausdruck bringt, scheint Jay Chou wie auf den Leib geschneidert. Sein Spiel wird durch seine eindrucksvolle Partnerin Lunmei Kwai, die die Rain [im Original heißt sie übrigens wirklich Xiàyǔ; zu deutsch: Regen] verkörpert, wunderbar ergänzt. Beide Schauspieler sind nicht die Verkörperung klassischer Schönheiten oder besonderer Attraktivität. Durch ihre Natürlichkeit und ihr unauffälliges Äußeres aber passen sie wunderbar in eine Liebesgeschichte, die alles sein will außer aufdringlich und pompös. Vielleicht soll dies eine Verbindung zwischen dem Zuschauer und den Figuren herstellen: Jay und Rain verbindet etwas Magisches, wodurch sie selbst zu etwas Besonderem werden, auch wenn sie einzeln vielleicht als „gewöhnlich“ und unscheinbar gelten.
„
Secret“ ist zudem ein Fest für die Sinne. Das Zusammenspiel von Musik und Bildern ist stimmig und somit mitreißend. Jay Chou gibt selbst seine Fertigkeiten am Klavier zum besten, was eben nicht nur was fürs Ohr, sondern auch etwas fürs Auge ist. Aufnahmen von Händen, die nur so über schwarze und weiße Tasten fliegen und dabei aber jeden Ton genau treffen und ein aus der Vogelperspektive betrachtetes „Piano-Battle“, bei dem zwei an gegenüberliegenden Flügeln sitzende Musiker versuchen, sich gegenseitig mit dem Spiel von schwierigen Stücken zu übertrumpfen, sind einfach eindrucksvoll. Auch abgesehen von Kamerafahrten über Flügel und fliegende Finger hat „
Secret“ visuell einiges zu bieten. Stimmungsvolle Aufnahmen von Sonnenuntergängen und schmalen Brücken über dicht bewachsene Berglandschaften für den ruhigeren Teil des Films werden ergänzt von guten Effekten und Zeitraffern für den fantastischen, mitreißenden Part, sodass man eines so selten wie möglich tun sollte: blinzeln.
„
Secret“ ist definitiv ein Film, auf den man sich einlassen muss, und den man vielleicht mehr als einmal gesehen haben muss, um allein alle Kniffs der Handlung nachvollziehen zu können. Wenn man dies aber getan hat, entführt einen der Film in ein zauberhaftes, unaufdringliches Märchen um die Macht des Schicksals, das durch Musik, Bilder, Darsteller und Story zu einem stimmungsvollen Erlebnis wird.