Ende der 1930er Jahre kam Micky Maus, das Quasi-Synonym für Walt Disney (1901-1966) langsam in die Krise, weil das Publikum der Zeichentrickfigur überdrüssig wurde. In den Cartoons erwies sich nun Donald Duck als Erfolg versprechender und gewann bei den Zusehern zunehmend an Beliebtheit. Da Disney sich jedoch von Micky nicht trennen wollte, versuchte er, ihm frischen Glanz zu verschaffen, indem er die Maus neu designte und ihr mit bewegten Bildern zu Paul Dukas’ (1865-1935) Tondichtung „Der Zauberlehrling“, für welchen er ursprünglich den stummen Zwerg Seppel aus dem Ersten Abendfüllenden Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937) vorgesehen hatte, ein großes Comeback zu verschaffen. Die Produktion von „Der Zauberlehrling“ begann 1938. Während der Herstellung begegnete Disney dem großen Dirigenten und Komponisten Leopold Stokowski (1882-1977), der dem Filmemacher das Angebot unterbreitete, die Musik für den Kurzfilm ohne Bezahlung aufzunehmen. Weiters konnte Stokowski an die hundert Berufsmusiker des namhaften Philadelphia Orchestras für Disneys Vorhaben gewinnen.
Trotzdem waren die Kosten für das Studio enorm. Mit einer Summe von 125.000 US-Dollar, die für einen Cartoon geradezu irrsinnig war, konnte der finanzielle Aufwand nie wieder eingespielt werden. Abermals hatte Stokowski den entscheidenden Einfall: warum nicht „Der Zauberlehrling“ als eine Episode in einen spielfilmlangen Trickfilm einbauen? Jede Sequenz sol
lte dabei auf einem berühmten Opus der „Klassischen“ Musik (inwiefern Igor Stravinskys [1882-1971] „Le sacre du printemps“ allerdings noch als „klassisch“ bezeichnet werden kann, ist fraglich) aufbauen.
Nachdem Disney überzeugt werden konnte, wurde der Musikkritiker Deems Taylor (1885-1966) engagiert, der vor jedem Abschnitt von „Fantasia“, der ursprünglich den Arbeitstitel „The Concert Feature“ trug, eine kurze, selbst verfasste Einleitung sprechen sollte. 1939 war „Der Zauberlehrling“ beinahe vollendet. Nun wurden die übrigen Stücke in Angriff genommen, infolgedessen Disneys dritter abendfüllender Animationsstreifen insgesamt 2,28 Millionen Dollar an Herstellungskosten verschlang.
Der Produzent hatte sich in seinem Hang zum Perfektionismus die Ziele sehr weit gesteckt. So ließ er für „Fantasia“ spezielle Programmhefte erstellen und in einer visionären Vorsehung der späteren Stereo- bzw. Surroundsoundsysteme, dem so genannten „Fantasound“, in jenen Kinos, in denen das pompöse Spektakel gezeigt werden sollte, Dutzende Lautsprecher installieren – geradezu revolutionär, bedenkt man, dass bis in die 1980er Jahre zahlreiche Filme noch in Mono abgemischt wurden. Um den Eindruck zu erwecken, „Fantasia“ sei mehr Konzert denn Film, verweigerte Walt Disney zunächst sowohl einen Vor- als auch einen Abspann. Erhielt der Film auch bei den New York Film Critics Circle Awards 1940 einen Special Award, 1942 den Oscar für den Einsatz des Tones im Film sowie die Visualisierung von Musik, mit dem Episodenfilm wollte sich vorerst der erwartete Geldsegen nicht einstellen, noch ließ sich eine stark gekürzte 81-Minuten Fassung lukrativ vermarkten. Das Publikum blieb aus.
Mehr als 20 Jahre sollten verstreichen, bis „Fantasia“ Gewinn erzielen konnte. Skurrilerweise war es gerade die 1968er Generation, die den Experimentalstreifen während des Genusses von LSD, Haschisch etc. zu konsumieren trachtete, um so auf ihre perfekten Trips zu kommen. Der Disney-Konzern sah darin 1969 eine Chance für einen Re-release und bewarb seinen ursprünglichen Flop mit psychedelisch anmutenden Plakaten.
Zum 50-jährigen Jubiläum im Jahr 1990 brachte Walt Disney Pictures das unkonventionelle Werk abermals in restaurierter Bild- und Tonqualität (hierbei wurde allerdings auf den neu aufgenommenen Soundtrack unter dem Dirigat von Irwin Kostal der 1980er Jahre verzichtet und stattdessen auf die alten Originalaufnahmen zurückgegriffen) in die Kinos und machte die meisten Schnitte rückgängig. Die DVD-Fassung von 2002 erhält als Bonus Claude Debussys (1862-1918) „Claire de lune“, den ich in meiner Kritik nicht ausklammern möchte.
DIE EPISODEN IM DETAIL
Zu Beginn vernimmt man aus dem Off die Stimme Deems Taylors bzw. Corey Burtons (da so viele Tonsegmente mit den Original-Kommentaren verloren gegangen waren, musste der Schauspieler in der restaurierten Fassung von 1990 Taylor nachsynchronisieren), der den Zuseher direkt anspricht und von nun an zwecks Auflockerung die einzelnen Episoden mehr oder weniger gekonnt einleitet (ein Höhepunkt stellt hierbei mit Sicherheit Taylors Präsentation des Hauptakteurs „Der Ton“ dar, der zu den unterschiedlichsten Instrumenten und musikalischen Klängen seine Performance abliefern darf). Das Orchester bekommt man dabei kaum direkt zu sehen, da nur die Silhouetten von Dirigent und Musikern vor einer in den verschiedensten Farben beleuchteten Wand zu erkennen sind. Auf diese Weise beginnt auch die erste musikalisch-visuelle Reise von „Fantasia“:
Johann Sebastian Bach (1685-1750), „Toccata und Fuge in D-Moll“ (BWV 565)
Bei Bachs „Toccata und Fuge in D-Moll“ handelt es sich eigentlich um ein anspruchsvolles barockes Orgelwerk, welches von Leopold Stokowski in eine zum Teil sehr sanfte (siehe den Einsatz von Harfen und Streichern), dann wieder aufgrund des brachialen Schmetterns der Bläser und heftiger Paukenschläge schwere Fassung transkribiert wurde. So wie Bachs Komposition im Gegensatz zur Ballet- und Programmmusik bzw. Symphonischen Dichtung der anderen Kurzfilme nur für sich besteht, ergeben auch die assoziativen Bilder dieser Sequenz keinen Sinn. Während vorerst noch die schemenhaften, bunten Schattenspiele sowie die Umrisse von Stokowski und dem ‚Philadelphia Orchestra’, das in Wirklichkeit aus Kostengründen nicht von den Profis des namhaften Orchesters, sondern lediglich von Musikern aus Los Angeles und Statisten, die zur Aufnahme Playback machten, gezeigt werden, folgt sodann eine abstrakte Bilderflut, die mit ihren phantasievollen Konturen, Kompositionen und synchron zur Musik stattfindenden Bewegungsabläufen vom deutschen Zeichner Oskar Fischinger inspiriert wurde, der darüber hinaus an der Entstehung dieses Abschnitts selbst beteiligt war.
Die Animationen sind für eine Walt Disney Produktion vollkommen atypisch, außergewöhnlich innovativ und stilistisch der Modernen Kunst zuzuordnen. Nie würde jemand auf die Idee kommen, dass diese Episode vom Macher Micky Maus’ initiiert wurde.
Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893), „Die Nussknacker Suite“ (Op. 71a)
Bei der Umsetzung von Tschaikowskys Suite aus dem Ballet „Der Nussknacker“ verzichtete man auf die Ouvertüre sowie den Marsch der Zinnsoldaten und brachte die einzelnen Stücke zwecks Erzählstruktur, welche den Wechsel der vier Jahreszeiten thematisiert, in eine neue Reihenfolge. Des Weiteren (dies gilt für beinahe alle Sequenzen von „Fantasia“) wurde die Musik an manchen Stellen gekürzt, ein notwendiges Unterfangen, weil die Gesamtzeit des Films ohnehin bereits an die zwei Stunden beträgt und damit für einen Trickfilm, dessen Animationen unser Auge bzw. unsere visuelle Wahrnehmung besonders schnell ermüden lässt, viel zu lange dauert. Zu den Klängen tanzen und bewegen sich Elfen, Blütenblätter Pilze, die Chinesen ähneln und dank des kleinsten Pilzes, der ständig aus der Reihe tanzt, für Komik und Auflockerung sorgen, Stiefmütterchen, die wie Kosaken aussehen, orientalisch durchs Wasser gleitende Fische, Blätter im Herbst, anthropomorphe Pollen, Schneeflocken und glitzernde Winterfeen. Wem das zu kitschig ist, der sollte am Besten gleich die DVD aus dem Player verbannen, denn „Fantasia“ lebt vom Reiz des Überschönen und Lieblichen; doch bedenke man, dass auch Tschaikowskys Nussknacker Suite sehr ‚schillernd’, ‚bunt’ und süßlich erklingt, sodass es nicht verwundern darf, dass bei den Zeichnern ebensolche Assoziationen geweckt wurden.
Paul Dukas, „Der Zauberlehrling“
Paul Dukas’ „Der Zauberlehrling“ ist eine Komposition der Gattung der Programmmusik und erzählt in Tönen und Klängen Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Ballade vom Zauberlehrling, welcher der Geister, die er rief, nicht mehr Herr zu werden vermag. Wie Eingangs erwähnt, ist der Protagonist dieser Episode Micky, der sich seines grimmigen Meisters magischen Hut aufsetzt und dem Besen ein Eigenleben verleiht, auf dass er selbst nicht mehr schuften und schwere Wassereimer schleppen muss. Wie zu erwarten, gerät alles aus dem Ruder…
Was uns Disney hier abliefert ist in der Tat vom Feinsten, denn die zeichentricktechnisch sehr schwer zu bewerkstelligenden Wassermassen sowie die zahllosen Besen veranschaulichen, warum die Produktion dieses Kurzfilms so kostenspielig war. Das Niveau der Animationen liegt dabei weit über dem anderer Micky Maus-Cartoons, da die eigenwilligen Farben, Backgrounds, Kontraste, Schwarz-Weiß eingefärbten Szenen und Schattenspiele „Der Zauberlehrling“ eine individuelle Note verleihen, die trotz der Komik-Maus weit weniger farbenprächtig und Disney-stereotyp als die Visualisierung der Nussknacker Suite ausfällt. Die Bilder zu der nur wenig gekürzten Musik wirken dabei so vollkommen, dass man meint, Dukas habe beim Komponieren bereits den Animationsfilm vor Augen gehabt und ihn extra für Micky Maus, die als kleiner Gag ihm Anschluss ihres größten Auftritts sich bei Stokowski Hände schüttelnd bedankt, geschrieben.
Igor Stravinsky, „Le sacre du printemps“
Mit seinem “Le Sacre du printemps“ schrieb Stravinsky ein bei seiner skandalösen Premiere für Furore sorgendes Ballet, das primitive rituelle Stammestänze darstellt. Disney hatte jedoch für dieses sehr klangewaltige Werk der Moderne ein völlig anderes, düstereres Konzept im Sinne: er wollte zu den rhythmischen Klängen und brutalen Einsätzen die Entstehung des Lebens auf der Erde von der Bildung der Landmassen, über die Entwicklung der Mikroorganismen bis zu den Dinosauriern und deren Untergang innerhalb weniger Minuten erzählen, indes er sich möglichst genau (trotz der bewussten fälschlichen Abbildung des Tyrannosauriers, der mit drei Fingern einen zuviel hat) auf die damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse stützte.
Die Urtiere sind hervorragend animiert und stehen den CGI-Animationen aus „Jurassic Park“ (1993) in nichts nach. Bei den Farben dominieren Rot- und Brauntöne, welche der Episode zuweilen einen aggressiven und gefährlichen Touch verleihen. Disney scheut an dieser Stelle nicht, Gewalt unverblümt darzustellen. So kommt es zu Kampf- und Fressszenen, der T-Rex reißt sein Opfer und das qualvolle, fatale Ende der Saurier, die durch eine schlammige Wüstenregion ziehen und dabei vergeblich nach Nahrung suchen, machen Stravinskys dunkle und erschütternde Umsetzung lediglich für ein älteres Publikum erträglich.
Ludwig van Beethoven, „Pastorale“ – 6. Symphonie in F-Dur (Op.68)
Von der sechsten Symphonie, in der Beethoven das Leben auf dem Lande sowie die Natur und Wetterlagen musikalisch beschreibt, wurde etwa die Hälfte der Spielzeit gestrichen. Disney situiert den Schauplatz des Geschehens im Antiken Griechenland, genauer gesagt auf dem Götterberg Olymp, wo im Zeitraum eines Tages die verschiedensten Fabelwesen sich ineinander verlieben, des Lebens frönen, ein Fest zu Ehren Bacchus, des Gottes des Weines, feiern, ein apokalyptisches Unwetter überstehen und sich am Abend zur Ruhe betten.
Für einen Skandal sorgten 1940 die Zentaurinnen, da jene wie bereits die Feen der Nussknacker Suite nackte Brüste zeigen. Beim Re-release Ende der 1960er Jahre stand dann die Darstellung einer schwarzen Sklavenzentaurin mit dem Unterkörper eines Esels zur Debatte, welche als rassistisch bekrittelt wurde. Zwecks politischer Korrektheit und Image entfernte der Konzern jene Szene, die auch heute auf der DVD-Fassung nicht mehr zu sehen ist. Bedenkt man, dass jeder Film eine historische Quelle seiner Zeit ist, ist dieses Übermaß an Stromlinienförmigkeit zu bedauern, zumal ja zwei andere Sklavinnen mit Zebraleib inkonsequenterweise nach wie vor gezeigt werden.
Im Übrigen ist diese Sequenz trotz einiger ideenreichen Momente sicherlich am verzichtbarsten. Sämtliche Charaktere, wie eine Pegasusfamilie, Faune, androgyne, voyeuristische, verkuppelnde Engerl usw., sind auf bewusste Oh-sind-die-süß!-Verniedlichung angelegt, sodass die „Pastorale“ aufgrund ihrer Farbenflashs im LSD- und Drogenrausch zwar durchaus konsumierbar ist, in nüchternem Zustand hingegen rasch als langatmig und nervig empfunden wird.
Amilcare Ponchielli (1834-1886), „Tanz der Stunden“
Bei „Tanz der Stunden“ handelt es sich um eine Balleteinlage aus Ponchiellis Oper „La Gioconda“. Auf einer riesigen Theaterbühne parodieren und persiflieren übergewichtige Nilpferde und Elefantendamen in rosa Schühchen, Strauße und hinterhältige Krokodile das klassische Ballett. Zugleich wird auch noch tänzerisch das Drama einer Nilpferd-Prinzessin erzählt, die von ungestümen Krokodil-Piraten, welche einen Frauenraub wagen, begehrt wird. Trotz etlicher Manierismen des Balletts geht beim Schwingen des Tanzbeins so einiges schief: permanent fallen die komikhaft gezeichneten Dickhäuter in althergebrachten Slapstickgags perfekt choreographiert auf den Hintern, klatschen in Brunnen oder purzeln sonst wie durch die Gegend und trampeln andere Beteiligte nieder.
Auf diese Weise wird „Tanz der Stunden“ für jeden, der Ballett verabscheut, zu einem Pflichtfilm; alle anderen werden sich an den augenzwinkernden Tanzbewegungen, die im Gegensatz zur Nussknacker Suite sich selbst aufs Korn nehmen, erfreuen und ob soviel Klamauk-Kreativität (vgl. nur den urkomischen und unvergleichlichen Pas de deux von Nilpferd und Kroko) zum Schmunzeln gebracht werden.
Modest Mussorgsky (1839-1881), „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“
„Eine Nacht auf dem kahlen Berge“, die Mussorgsky auch in seiner Oper „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“ einbaute, zählt wiederum zur Musikgattung der Symphonischen Dichtung und skizziert einen Hexensabbat in der Walpurgisnacht, der unter Aufsicht und Anleitung des Fürsten der Finsternis in persona ausschweifend auf dem Teufelsberg gefeiert wird. Schließlich beschwört Satan, der (abgesehen von Tim Curry in „Legende“ [1985]) die größten Hörner der Filmgeschichte sein Eigen nennt – was für ein Phallussymbol! –, sogar die Toten aus ihren Gräbern, um sich mit Hexen, Kobolden, geflügelten Monstren, Geistern, Untoten, Skeletten, Drachen und allen Ausgeburten und Kreaturen der Hölle in einem orgiastischen perversen Tanz zu wiegen.
Neben dem Widersacher (die Macher nannten ihn „Chernabog“, und niemand anderer als Horrorikone Béla Lugosi stand für dessen Bewegungen, Mimik, Gestik und Gebärden Modell), der sich tagsüber in Stein verwandelt, springen die Animationen der nackten Harpyien ins Augen, die noch freizügiger als die Zentaurinnen der „Pastorale“ auftreten, indem sie ihre unverhüllten Brustwarzen in die Kamera halten – ein regelrechter Skandal, bedenkt man, dass dies bis heute in den USA unter Pornographie fällt, weshalb „Fantasia“ streng genommen ein Rated-R erhalten müsste, zumal man in einem Disneyfilm mit der Andeutung brutaler Sexualität in dieser mutigen Darstellung des Hexen&Dämonen-Swingerclubs wirklich nicht gerechnet hätte, war doch Walt Disney ein stockkonservativer Vertreter der politischen Rechte und treuer Republikaner.
Im Tumult dieser makaberen infernalischen Feier merken die Geschöpfe der Nacht nicht, dass bereits der Morgen graut. Das Schlagen einer Kirchglocke kündigt das Erwachen eines neuen Tages an und gebietet dem Belzebub, der hierauf widerwillig wieder zum Berg werden muss, und dessen Schergen Einhalt. Mit diesem eleganten visuellen und musikalischen Übergang zur letzten Episode, gelingt den Künstlern eine prägnante Gegenüberstellung von Profanem und Sakralem, als wären „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ und Franz Schuberts (1797-1828) „Ave Maria“ schon immer eine in sich geschlossene Komposition gewesen.
Franz Schubert, „Ave Maria“(Op. 52 Nr. 6, D 839)
Wenn ich ehrlich sein soll, war mir diese Version von Schuberts Marien verehrendem Lied, das in seiner ursprünglichen Fassung weit schlichter klingt, aufgrund der Orchester- und Chorbegleitung der Sopranstimme (Julietta Novis) unter rein musikalischen Gesichtspunkten schon immer zu aufgepeppt und schnulzig. Nun gut, Stokowski neigt eben zu Schwere und Pomp, und darüber hinaus bilden hier abermals Bild und Ton eine abgerundete, harmonische Einheit.
Die melancholische Sequenz hat keine Handlung, sondern zeigt lediglich eine Lichterprozession frommer, verhüllter Christenmenschen, die sich langsam durch Wälder, Wiesen und Hügel bewegt. Wie in „Le Sacre du Printemps“ besticht hier der Einsatz der Multiplankamera, die in der letzten Einstellung, welche erst am Tage der Uraufführung vollendet wurde, durch einen dunklen Wald, der einer gotischen Kathedrale nachempfunden ist, in Richtung Sonnenaufgang gleitet und die Illusion von echter Dreidimensionalität entstehen lässt. Besonders komplex gestalteten sich für die Macher die Bewegungsabläufe der langsam dahin schreitenden Menschen, weil jedes Ruckeln und jede Unregelmäßigkeit sofort auffallen würde.
BONUS: Claude Debussy, „Clair de lune“
Obwohl diese sieben Minuten lange Episode bereits 1946 neu aufgenommen und überarbeitet in der Sequenz „Blue Bayou“ des Films „Lachkonzert in Entenhausen“ ihre Veröffentlichung fand, wollte es erst nach dem Auffinden einer alten Filmrolle im Jahr 1992 gelingen, „Claire de lune“ in seine ursprüngliche Fassung, wie sie von Walt Disney einst für „Fantasia“ intendiert war, zu bringen und verloren gegangene Szenen einzufügen.
Beim Ansehen des Kurzfilms wird klar, warum die Visualisierung von Debussy nicht als Beitrag von „Fantasia“ geeignet ist: sie ist zu verlangsamend und friedlich, was in einem Episodenfilm dieser Länge auf das Publikum eine sehr einschläfernde Wirkung haben dürfte. Die Sequenz zu Stokowskis Transkription des Pianostücks zeigt einen Flamingo, der im Lichte des Vollmonds in einem Bach trippelt, durch den Wald gleitet, auf einen anderen Vertreter seiner Spezies stößt und mit diesem in Richtung Sterne bzw. Mond fliegt. Zeichentricktechnisch höchst beeindruckend sind die fließenden, geschmeidigen Bewegungen der Vögel, während die detaillierten Backgrounds und Sets mit ihrer Plastizität begeistern. Der Mondschein, welcher sich in den Wellen des Wassers widerspiegelt, zeugt von viel Liebe zum Detail und einem enormen Arbeitsaufwand. Selten hat Wasser in einem Animationsfilm so gut und perfekt ausgesehen.
FAZIT
Der bittere Kinoflop „Fantasia“ ist ein mutiges, teils langatmiges avantgardistisches Experiment aus dem Hause Disney, zu dem viele Anhänger des traditionellen Zeichentricksfilms keinen Zugang finden. Eine wichtige Voraussetzung für das Ansehen des Episodenfilms ist die Offenheit für „klassische“ Musik, hier insbesondere zu Romantik, Spätromantik und Moderne. Die Ansprüche, die Walt Disney an sein Publikum stellt, sind unglaublich hoch, denn auf „Fantasia“ muss man sich voll und ganz einlassen, ist er doch keinesfalls als leichte Unterhaltung für Zwischendurch geeignet. Das hingegen ist bei einem Animationsfilm von beinahe zwei Stunden Spiellänge alles andere als leicht. Im Zeitalter der DVD kann ich nur die Empfehlung abgeben, das Werk auf mindestens zwei Sessions aufzuteilen, um jede Sequenz ganz bewusst aufnehmen zu können.
Wenn auch „Fantasia“ aus acht akustischen und visuellen Reisen besteht, scheinen die Macher bei der visuellen Umsetzung der Kompositionen die Themen der Vergänglichkeit, der Jahreszeiten, von Tag und Nacht und des Kreislaufes des Lebens vor Augen gehabt zu haben. Am originellsten ist wohl die Verbildlichung von Bachs „Toccata und Fuge in D-Moll“, während die überflüssige Umsetzung von Beethovens sechster Symphonie besser hätte herausgeschnitten werden sollen. Einen äußerst gewagten Trumpf, den „Fantasia“ erst gegen Ende aus dem Ärmel zieht und somit alle überrascht bzw. reaktionäre Naturen regelrecht schockiert, ist die sogartige, laszive „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ von Mussorgsky. Mit diesem Höhepunkt, der nahtlos zu Schuberts „Ave Maria“ übergeht, gelingt ein perfekter Abschluss, der den Dualismus und die Dialektik des Lebens thematisiert.
Insgesamt können Walt Disney und seine Helferlein mit sehr abwechslungsreichen Stilen sowie aufwändigsten SFX voll überzeugen und liefern erstklassige, opulente Arbeit auf sehr hohem künstlerischem Niveau ab. Mutierte in den letzten Jahrzehnten der Animationsfilm zunehmend zur Massenwahre, welche oftmals jeglichen Einfallsreichtums entbehrt, ist bei „Fantasia“ noch ein kreativer, visionärer Funke, der die Macher zu Besessenen ihres Vorhabens werden ließ und sie zu Höchstleistungen anspornte, zu verspüren.