„Elementar, lieber Watson!“ Wer bei dieser Phrase sofort den Namen Sherlock Holmes abrufen kann, darf sich zwar zum erweiterten Kreis der Eingeweihten zählen, muss sich aber vom harten Kern der Doyle-Jünger eines Besseren belehren lassen: Das Zitat stammt nicht aus einer der Originalgeschichten, sondern ist ein kulturelles Artefakt - unter anderen - der relativ freien Holmes-Adaption "Die Abenteuer des Sherlock Holmes" aus dem Jahr 1939. Die Hartnäckigkeit der Eigendynamik, mit der sich der Mythos durch das popkulturelle Gedächtnis bohrt, bildet dieser Irrglaube jedoch gut ab. Eines vorweg: Von Guy Ritchies modernisierter Variante des wohl bekanntesten Romandetektivs wird man diesen Ausspruch nicht hören. Stattdessen proklamiert der Überraschungshit trotz Neuanstrich eine gewisse Werktreue. Ruppiger soll der Action-Holmes zu Werke gehen. Vom Bild des steifen Logikers bleibt dann unter Ritchies Fuchtel auch nicht mehr viel übrig: Sein Streifen führt Holmes als chaotisch-genialen Exzentriker vor, dessen Genie sich weniger aus kühler Beobachtungsgabe, sondern aus unberechenbarem Assoziationsvermögen nährt.
London zur Jahrhundertwende: Die britische Hauptstadt ist ein Schmelztiegel der industriellen sowie technischen Revolution und steht vor dem Aufbruch in eine glorreiche Moderne. Doch unter der geschäftigen Oberfläche keimt das Verbrechen: Gerade erst haben der exzentrische Privatermittler Sherlock Holmes (Rober Downey Jr.;
Iron Man, Der Solist) und sein scharfsichtiger Partner Dr. Watson (Jude Law
Hautnah, Unterwegs nach Cold Mountain) den zwielichtigen Lord Blackwood durch entschlossene Eigeninitiative zur Strecke gebracht. Nun wartet der Galgen auf den zigfachen Ritualmörder. Doch vor seinem Ableben verspricht der Schurke noch einmal hämisch, dass sein Tod erst der Anfang sei. Und tatsächlich: Kurze Zeit später deutet alles darauf hin, dass Blackwood von den Toten auferstanden ist. Die Londoner Bevölkerung ist zutiefst verunsichert. Nur Holmes traut der Spukgeschichte nicht und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, hat aber nebenbei damit zu kämpfen, dass sich sein Partner Watson für ein bürgerliches Leben mit Frau, Haus und – man kann nur mutmaßen – Hund entschieden hat…
Dieser zentrale Konflikt hat in der Presse bereits weite Kreise gezogen und wurde durch eine Aussage Downey Jr.‘s noch einmal angeheizt: Von einem homosexuellen Subtext ist die Rede, die Partnerschaft zwischen Holmes und seinem Partner sei mit homophilen Anspielungen gespickt. Was auch immer man davon halten mag: Diese Attribuierung sagt womöglich mehr über das kulturelle Umfeld aus, in der solch eine Rezeption ihre Abnehmer findet, als tatsächlich einen der Kernpunkte des Filmes wiederzugeben. US-Rechteinhaberin Andrea Plunket fand das Ganze jedenfalls gar nicht lustig und reagierte prompt unter Androhung des Entzugs der Rechte, sollte in der höchstwahrscheinlichen Fortsetzung tatsächlich ein homosexuell konnotierter Handlungsstrang geplant sein. Ob platonisch oder nicht: das krampfhafte Festhalten Holmes an seinem Partner ist eines der ergiebigsten Motive über die gesamte Filmlänge und sorgt für die eine oder andere zum Schreien komische Situation.
Trotz des Action-Präfixes bleibt Sherlock Holmes aber natürlich in erster Linie eine Kriminalgeschichte und muss sich als solche beweisen. Durch eine raffinierte Erzähltechnik, die bereits gezeigtes Bildermaterial noch einmal retrospektiv auswertet, schlägt der Plot einige unerwartete Haken. Eine Analogie lässt sich zu Burtons
Sleepy Hollow herstellen, der ein ähnliches Zeitgemälde im Konfliktfeld von Magie und Ratio mit einem Kriminalplot anreichert und ebenso allerlei technische Gerätschaften als stumme Vermittler beider Welten auffährt. Die Rückbindung seiner Symboliken an den Plot gelingt Ritchie allerdings nicht hundertprozentig, so dass auch nach dem finalen Twist einige Fragen offen bleiben, anstatt sich mühelos ineinander zu fügen. Inwiefern dieser Makel bei der Betrachtung zwingend ist, muss jeder selbst entscheiden. Der findige Krimiliebhaber wird natürlich die eine oder andere Ungereimtheit wie die Nadel im Heuhaufen suchen und auch finden. Wer an Schauwerten und viel Sprachwitz interessiert ist, wird dem Film seine Qualität an anderer Stelle abgewinnen können.
Apropos Schauwerte: Es wäre nicht das erste Mal, dass Ritchie eine einmal etablierte Stilistik bis zum Exzess ausreizt. Auch Sherlock Holmes trägt unweigerlich seine selbstbewusste Handschrift. Die bereits erwähnten Retrospektiven projizieren die assoziativen Geistesblitze des berühmten Londoners in entsprechend turbulente Bilder. Kommt es allerdings zu Handgreiflichkeiten - und diese treten in beinahe akribisch vermessenen Abständen auf und sind der Dramaturgie nicht immer dienlich – wird die Kamera zum Wackelkandiaten. Was laut den Produzenten der Unmittelbarkeit dienen soll, gerät leider des Öfteren zur Herausforderung für das Auge. Einige der Choreografien sind zudem recht unspektakulär geraten. Dabei hatte Ritchie mit Hobby-Kampfsportler Downey Jr. einen Mann vor der Linse, dessen Athletik er durchaus hätte für sich sprechen lassen können. Immerhin wird das muntere Getümmel ab und an durch Slapstickeinlagen aufgelockert. So sieht sich Holmes, nur mit einem kleinen Hammer bewaffnet, in einer Schiffswerft einem Französisch sprechenden (!) Riesen gegenüber gestellt, welcher ihm mit einem Hammer der Marke ‚überdimensioniert‘ ans Leder möchte. Neben dem dialoglastigen Plotverlauf sind die Actionanteile dennoch oft einfach nur unnötiges Beiwerk.
Gegen diese drohende Beliebigkeit steht unter anderem ein Name: Robert Downey Jr.. Dem Iron Man-Darsteller gelingt der Balance-Akt zwischen exzentrischer Verausgabung und akzentuiertem Charakterspiel hervorragend. Mit Sherlock Holmes etabliert er ein Unikat, das in seiner eigenwilligen Interpretation so in keinem Drehbuch festgehalten werden kann. Etwas Ähnliches ist zuletzt Johnny Depp mit seiner Figur des Jack Sparrow in
Fluch der Karibik gelungen. Aber auch Jude Law konnte lange nicht mehr so überzeugen. Seiner akzentuierten Darstellung des Watson ist es zu verdanken, dass Downey Jr.s. darstellerisches Gewicht den Film nicht aus den Angeln hebt. Rachel McAdams (State of Play, Die Frau des Zeitreisenden) hingegen überzeugt mit charismatischer Leinwandpräsenz und die viel beschworene Chemie zwischen ihr und Downey jr. stimmt. Einen Wehmutstropfen gibt es in den Reihen der großartig aufgelegten Schauspielerriege dennoch: Trotz aller Lobeshymnen von Seiten der Macher kann Mark Strong (
Revolver,
Der Sternwanderer) seinem Schergen Blackwood nur eine relativ einseitige Interpretation abgewinnen. Da hatte Strong als Pinbacker in
Sunshine auf jeden Fall den charismatischeren Antagonisten gemimt. Zuletzt sei auch noch Eddie Marsan (
Hancock,Der Illusionist) erwähnt, der einen wundervoll britischen Inspektor Lestrade abgibt.
Fazit: Trotz recht konventionellem Plot funktioniert Sherlock Holmes als bissiger Action-Krimi, der sich vor allem auf seine spielfreudigen Hauptdarsteller, raffinierte Schnitte und ein erfrischend lebendiges Szenario verlassen kann. Zum großen Wurf fehlt allerdings eine gewisse erzählerische Raffinesse. Um nicht zu viel zu verraten: Sherlock Holmes endet mit einem Cliffhanger, der so ähnlich auch bereits in Nolans
Batman Begins Appetit auf mehr gemacht hat. Irene Adler intoniert dazu: „A Storm is Coming“. Sollte Ritchie für eine Fortsetzung die beanstandeten Punkte ausmerzen, kann sich diese Prophezeiung eigentlich nur bewahrheiten.