Mit dem Thema
Blindheit befasst sich im weitesten Sinne der sehr effektive, spanische Horrorthriller „Los ojos de Julia“.
Dabei stellt Guillem Morales' zweiter Spielfilm mit Sicherheit keine wissenschaftliche Abhandlung dieser schwersten Form der Sehbehinderung dar.
Das Werk macht sich vielmehr erzählerisch und inszenatorisch gekonnt die Möglichkeit zunutze, seine Geschichte einmal von dieser anderen Perspektive zu betrachten, um so ein sehr beklemmendes Gefühl von Angst und Hilflosigkeit bei den Zuschauern zu erzeugen.
Der Regisseur entwirft hier ein extrem nervenzerrendes Katz-und-Maus-Spiel, das es sich aber vereinzelt auch nicht nehmen lässt, tragische Aspekte der Blindheit – wie beispielsweise Isolation – mit in den Plot einzuflechten und dadurch deutlich an dramaturgischer Tiefe zu gewinnen.
Tatsächlich gehört das von „
Pans Labyrinth“-Regisseur Guillermo del Toro (der sich nach „
Das Waisenhaus“ und „
Splice - Das Genexperiment“ langsam zusätzlich einen guten Ruf als Produzent von Genre-Filmen aufbaut) präsentierte Werk zum Überzeugendsten und technisch Versiertesten, was das Spannungskino in den vergangenen Monaten hervorgebracht hat.
Während sich eine Vielzahl moderner Thriller recht offensichtlich beim nihilistischen Konzept von David Finchers einflussreichem Meisterwerk „
Sieben“ (1995) bedienen, steht Morales' Arbeit wieder eher in der Tradition des großen Suspense-Meisters Alfred Hitchcock und atmet zugleich den Geist der italienischen
Giallo-Filme der frühen Siebziger.
Und um es auf den Punkt zu bringen:
Würde es Dario Argento heutzutage noch einmal schaffen, eine Leistung in der Qualität seiner frühen
Tier-Trilogie („
The Bird with the crystal Plumage“, „
Die neunschwänzige Katze“, „
Vier Fliegen auf grauem Samt“) vorzulegen, so würde das Ergebnis „Los ojos de Julia“ vielleicht gar nicht so unähnlich sein...
Eine blinde Frau (Belén Rueda) tastet sich während eines schlimmen Unwetters durch ein dunkles Haus.
Irgendjemand scheint mit ihr in der Finsternis zu sein. Sie spricht mit dieser unsichtbaren Person und fleht diese erfolglos an, sich zu erkennen zu geben.
Daraufhin findet die Frau ihren Weg in den Keller, steigt auf einen Hocker und bindet sich einen Strick um den Hals.
Doch bevor sie sich des Gestells unter ihren Füßen selbst entledigen kann, stößt ein Phantom dieses brutal beiseite und fotografiert sein Opfer beim qualvollen Sterben…
Mit diesem äußerst atmosphärischen und schockierenden Auftakt beginnt Guillem Morales' exzellent fotografierte Schaudergeschichte, die es in ihrem Verlauf noch sehr geschickt anstellt, ihr Publikum durch das Einstreuen falscher Fährten oder inszenatorischer Kniffe zu manipulieren.
Die mehrfache Preisträgerin Belén Rueda („Das Meer in mir“, 2004) verkörpert dann nach der Einstiegssequenz auch die Hauptfigur Julia, die als Zwillingsschwester der Toten nicht an den vermuteten Selbstmord glaubt und deshalb nun ihren eigenen Recherchen nachgeht.
Das Detektivspiel stellt sich für sie allerdings als ein enormes Problem heraus, denn wie man bald erfährt, leidet Julia wie ihre Schwester an einer genetischen Krankheit, die vor allem unter dem Risikofaktor Stress zur rapiden Erblindung führen kann.
Zu Beginn von „Los ojos de Julia“ entwirft Regisseur Morales („
Uncertain Guest - Du bist nicht allein“) also zunächst eine eigentlich sehr typisch-mysteriöse Krimi-Ausgangssituation:
Es gibt einen Mord, einen unbekannten Täter und eine engagierte Freizeit-Ermittlerin, der natürlich zunächst niemand ihre Theorie abkaufen möchte (so wie hier Julias besorgter Ehemann Isaac) und die sich langsam in einem Netz aus Geheimnissen und Lügen zu verfangen droht.
Um nicht unnötig viele Überraschungen des hakenschlagenden Werkes zu verraten, möchte es der Rezensent deshalb inhaltlich auch bei der recht knappen Beschreibung belassen – allerdings nicht ohne anzufügen, dass sich die erste Spur bei der Angabe eines geheimnisvollen Gefährten der Toten zu verlieren scheint.
Ein Befragter spricht über diesen wie eine Art von Monster – ein Unsichtbarer sei er, ein Schatten mit zornigen Augen.
Wie bereits eingangs erwähnt, gehören nämlich auch Horrorelemente zum festen Bestandteil des Films.
Und ohne dass man hier kettenrasselnde Gespenster oder übermäßige Blutbäder vermuten müsste, bekommen Freunde des gepflegten Grusels genügend Momente geboten, die ihnen oft unerwartet einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen.
Als konservativer Zuschauer wird man sich vielleicht mit einigen Szenen weniger anfreunden können, in denen sich die Inszenierung über eine rein reale Darstellung der Ereignisse hinwegzusetzen und bereits an der Pforte des Phantastischen zu kratzen scheint.
Allerdings sind dies dann auch genau die Momente, die „Los ojos de Julia“ etwas Unberechenbares verleihen und ihn von einer zweifelsohne spannenden aber deutlich weniger faszinierenden Produktion wie Bruce Robinsons „Jennifer 8“ (1992) abgrenzen.
Natürlich gibt es auch bei diesem handwerklich geradezu perfekten Film (man beachte bitte unbedingt genau Óscar Fauras grandiose Kameraarbeit) kleinere Schönheitsfehler zu bemängeln:
Das Ende ist insgesamt um ein paar Minuten zu lang geraten und auch die durchaus romantischen Aspekte der Geschichte wirken vereinzelt unpassend.
Doch diese Kritikpunkte ändern nichts an dem insgesamt äußerst positiven Gesamteindruck, den dieser visuell kraftvolle und zermürbend spannende Neo-
Giallo beim Rezensenten hinterlassen hat.
So dürfen schwarze Handschuhe auch gerne in der heutigen Filmwelt wieder getragen werden.