Drei maskierte Frauen stehen mit Unterwäsche knapp bekleidet nebeneinandergereiht in einer abgedunkelten Halle. Durch ein Loch in einer Trennwand werden sie von einer unbekannten Person beobachtet. Eine Männerstimme fordert schließlich alle bis auf die blonde Irena zum Gehen auf; die Übriggebliebene soll sich nun komplett ausziehen und ihren Körper von allen Seiten zeigen.
Noch bevor sie ihre Maske abstreift, schneidet das Bild im Stakkato zu derselben Frau (Kseniya Rappoport), die nun mit brünetter Haarfarbe in einem Zug in eine norditalienische Stadt reist und dort in einer überteuerten Wohnung unterkommt. Zunächst arbeitet sie im gegenüberliegenden Haus, das größtenteils von Goldschmieden bewohnt wird, als Haushälterin.
Mit der Zeit zeigt die mysteriöse Irena, die zudem eine gigantische Summe Bargeld versteckt, ein offensichtliches Interesse an der Familie Adacher (Claudia Geriini und Pierfrancesco Favino). Um diesen näher zu kommen freundet sie sich mit deren älterer Haushälterin Gina (Piera Degli Espositi) an und stiehlt ihr während eines Kinobesuches den Schlüssel zur Wohnung ihrer Arbeitgeber, um einen weiteren anfertigen zu lassen.
Kurz drauf stößt Irena Gina im Verlauf eines vorgetäuschten Unfalls die Treppen des Hauses hinab, um ihren Platz bei der Familie einzunehmen. Der Plan glückt, und so darf sich die ursprünglich aus der Ukraine stammende Frau bald um diverse Aufgaben bei den Adachers kümmern, wobei ihr vor allem deren kleine Tochter Tea (Clara Dossena) ans Herz wächst.
Doch die Idylle ist nicht von langer Dauer, denn abgesehen von quälenden Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit, bekommt Irena Besuch von dem brutalen Muffa (Michele Placido, „
Allein gegen die Mafia“), der mit ihr noch eine offene Rechnung zu begleichen hat…
Sechs Jahre hat sich der Oscar-Preisträger Giuseppe Tornatore („Cinema Paradiso“) Zeit gelassen, um nach dem 2000 entstandenen „Der Zauber von Malèna“ einen weiteren Film fertigzustellen.
Was er seinem Publikum diesmal serviert ist ein düsterer Mix aus eindringlichem Charakter-Drama und packendem Mystery-Thriller im Stil eines Alfred Hitchcock und David Lynch. Zumindest ist das Werk ohne Rücksicht auf moderne Trends entstanden, und gelegentlich blitzt sogar der sehnlichst vermisste Geist alter italienscher
Gialli auf, was sich dann aber eher auf visueller Ebene und bei den wenigen Gewaltszenen abzeichnet.
Neben der spannenden Story sind es die beeindruckenden Bilder, die den Zuschauer begeistern und ihn endlich mal wieder in die Zeit vergangener Klassiker zurückversetzen, in der noch Atmosphäre und nicht billige Effekte den Ton angegeben haben.
So stammt auch der brillante Soundtrack von niemand Geringerem als Großmeister Ennio Morricone („
Spiel mir das Lied vom Tod“, „
The Bird with the crystal Plumage“), dessen Stücke ja bereits so einige Leinwand-Großtaten noch an emotionaler Wucht verstärkt haben.
Den Grund, warum Irena es so sehr auf die wohlhabenden Adachers abgesehen hat, enthält der Regisseur dem Zuschauer lange vor, doch im Prinzip steuert „Die Unbekannte“ nicht nur auf die Auflösung dieser Frage zu, sondern konzentriert sich vor allem auf die verschachtelt erzählte und schockierende Lebensgeschichte der Hauptfigur.
Die russische Schauspielerin Kseniya Rappoport spielt die zwielichtige Irena mit einer Mischung aus Stärke und zugleich kalter Skrupellosigkeit. Es braucht eine Weile, bis man sich an ihren geheimnisvollen Charakter gewöhnt hat, da sie – vor allem nach der Tat an der sympathischen Gina – nicht gerade als typische Filmheldin auftritt und so die ersten Identifikationsansätze erst durch die stetig wiederkehrenden Vergangenheitsschübe entstehen. In dessen Verlauf wird der Zuschauer mit der tragischen Liebesgeschichte Irenas konfrontiert, wonach dieser vielleicht nicht jede ihrer amoralischen Handlungen gutheißen will, aber den geschundenen und verbitterten Charakter besser verstehen lernt.
Auch das Verhältnis zwischen der Haushälterin und der jungen Tea nimmt eine wichtige Stellung im Film ein:
Da sich das Kind aufgrund einer Krankheit nicht vor Stürzen schützen kann, versucht Irena ihr in Abwesenheit der Eltern diese Fähigkeit durch unorthodoxe Methoden beizubringen. Sie bindet Tea am ganzen Körper mit Seilen zusammen, wirft sie auf dem Bett um und fordert sie unsanft auf, wieder von selbst aufzustehen.
Diese Szene verwendet Tornatore als metaphorische Verbindung zwischen den Beiden, denn auch seine Titelfigur musste im Laufe ihres vorherigen Lebens schlimme Rückschläge einstecken und dabei lernen, ohne fremde Hilfe wieder auf die Beine zu kommen. Irena erträgt es nicht, das Mädchen so schutzlos zu sehen und versucht ihr nach und nach ihren eigenen starken Kampfgeist zu vermitteln.
Wer sich „Die Unbekannte“ ansehen möchte, sollte sich im Vergleich zu den vorherigen Werken des Regisseurs auf einen ungleich unangenehmen Film einstellen. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht auch bei diesem einige Lichtblicke in der ansonsten eher düsteren Geschichte gibt, aber er ist eben in keinster Weise eine gute Wahl für ein paar verträumte und romantische Kinostunden in trauter Zweisamkeit.
Da die Handlung auch anfangs sehr bruchstückhaft fortschreitet, werden sich vermutlich Freunde etwas konventionellerer Stoffe schwer mit dem kleinen Leinwand-Kunststück tun, aber für
Arthouse-und nostalgische Italo-Krimi-Fans dürfte „Die Unbekannte“ ein echtes Highlight des hiesigen Kinojahres 2008 markieren.
Obwohl die Auflösung selbst vielleicht am Ende nichts bahnbrechend Neues für Kenner bereithält, kommt es bei diesem Film in erster Linie auf das
Wie – also die Umsetzung – an.
...und die kann sich wirklich sehen lassen.