Parallel zu dem vom 19. bis zum 31. Oktober laufenden Viennale-Filmfest in Wien sponserte der Radiosender OE1 den Wiener Studenten die Filmpremiere des neuen Films von George Ratliff. „Joshua“ wurde zeitgleich mit der Eröffnung der Viennale, am 19. Oktober, in einem Lehrsaal auf dem Unicampus gezeigt und von den Studenten noch vor der offiziellen Aufführung auf der Viennale gesehen – und die Karten gab’s dazu auch noch ganz umsonst.
Aus einem gemütlichen Filmabend mit Freunden, Studienkollegen und mitgebrachten, meist alkoholischen Getränken wurde die Vorführung für das junge Publikum zu einer intensiven und beklemmenden Erfahrung.
Joshua Cairn, eindringlich gespielt von Jacob Kogan, ist der 9 jährige Sohn von Brad (Sam Rockwell) und Abby (Vera Farmiga). Die 3-köpfige Familie lebt in New York und bekommt gerade Zuwachs. Vater und Mutter befinden sich in höchster Vorfreude, so auch Abbys schwuler Bruder Ned (Dallas Roberts) und Brads konservative Eltern. Das junge Ehepaar Cairn bezieht ein aufwendig eingerichtetes Appartement in der Stadt, der finanziellen Kragenweite des Kaufmanns Brad entsprechend, und der Platz für den Neuling ist bereits geschaffen. An einem sonnigen Nachmittag ist es dann soweit, Lily hat den beschwerlichen Weg aus dem Mutterbauch geschafft und die Familie ist außer sich vor Freude. Nur bei einem will sich der grenzenlose Enthusiasmus nicht einstellen. Lilys Bruder Joshua wurde von Ned abrupt aus einem Fußballspie
l gerissen und widerwillig in das Hospital entführt, nur um Zeuge dessen zu sein wie seine Eltern sich in überschwänglichem Euphoriezustand über einen kleinen Schreibalg beugen und sich alles andere als erwachsen benehmen.
Joshua ist nämlich ein ernster Junge mit konservativem Seitenscheitel, der übermäßig intelligent ist und statt des anspruchslosen Schulunterrichts und des routinierten Klavierspielens bereits eigenen, zugegeben unüblichen Interessen, wie dem Exhumierungsritus der Ägypter und dem Erforschen der Vergänglichkeit von Lebewesen in seiner Umgebung, nachgeht. Joshua erforscht seine Umgebung mit Rationalität und mit fast schon analytischer Genauigkeit. Schnell fällt ihm auf, dass seine Mutter Abby mit dem Stress, der mit der Neugeborenen auf ihren Schultern lastet, nicht zurecht kommt. Besonders das permanente Babygeschrei setzt ihr zu. In dem Appartement gibt es einfach keine Gelegenheit sich vom schrillen Jammergeplärre zurück zu ziehen. Selbst nachts ist das Baby unzufrieden und verlangt nach der Mutter. Joshua findet zufällig eine Videoaufnahme, die sein Vater Brad nach seiner Geburt gedreht hatte. Hier wird schon deutlich wie labil und überfordert Abby als junge Mutter war, da auch der kleine Joshua lauthals quengelte – diese Symptome wiederholen sich nun mit Lily, und Abby versinkt von postnatalen Depressionen immer mehr in eine tiefe Psychose, in deren Verlauf sie bereits die Paranoia entwickelt, dass jemand durch die Schlafzimmerdecke mit einem Bohrer (das Bohrgeräusch ist dabei eine akustische Abwandlung des Babygeschreis) ins Zimmer einzudringen versucht.
Der energische und Optimismus ausstrahlende Vater Brad nimmt dagegen den Gegenpol ein und hält anfangs die Familie auch gekonnt im Gleichgewicht. Er ist vital, schafft es seine Frau zu trösten und kurzzeitig auch ihre Sorgen zu zerstreuen; auch liefert Brad schnelle Lösungen für aufkommende Probleme. Dabei gelingt es ihm zugleich Job und die familiären Komplikationen unter einen Hut zu bringen und größtenteils zu meistern. Er ist selbstbewusst, kreativ und psychisch weit mehr belastbar als die verheulte Ehefrau – das bringt ihm schnell Joshuas Sympathien ein.
Überhaupt beginnt Joshua, von dem der Zuseher im Laufe des Filmes immer mehr erfährt, der aber trotzdem mysteriös und unergründbar bleibt, nicht zuletzt durch seine minimalistischen Äußerungen und den starren, ernsten Gesichtsausdruck, zu klassifizieren: der Vater ist eine starke und verlässliche Person und verdient damit die Bewunderung und Ausrichtung des Neunjährigen. Die Mutter und das Baby sind schwach und hilflos, auf andere angewiesen und bekommen dennoch in Joshuas Augen unverdient die ganze Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit, die ihm letztendlich nicht gegönnt wird.
Der Junge unterläuft eine grundlegende Veränderung. Zuerst versucht er aufzufallen, indem er z.B. lange von Zuhause wegbleibt, seine Spielsachen an „die Armen“ verschenkt, bei öffentlichen Schulaufführungen absichtlich falsch spielt und einen Ohnmachtsanfall vortäuscht.
Doch als dieser Kurs keine Früchte trägt – die depressive Mutter und das nie zur Ruhe zu bringende Kind halten immer noch die Familie auf Trapp – greift der Ausgeschlossene zu drastischeren Maßnahmen, die immer expliziter und aggressiver werden.
Schon bald ist das Kinderzimmer verwüstet, in der Schule gemalte Bilder voller Gewaltfantasien, die Mutter nach einem von Joshua provozierten Unfall auf Krücken angewiesen und der Hund vergiftet. Doch immer so geschickt inszeniert, dass es nach einem Unfall oder zufälligen Handlungsverkettungen aussieht und der unscheinbare Sohn nicht in Verdacht gerät. Brad, der seinen Job mittlerweile gekündigt hat, widmet sich nun vollends der Ehefrau und dem Baby, wobei er auch Joshua nicht zu vernachlässigen versucht. Doch als das Baby aus der Krippe verschwindet, die Ehefrau in einer Abstellkammer eingesperrt wird und daraufhin einen Nervenzusammenbruch erleidet und die Großmutter eine Treppe herabstürzt, wittert der Vater, dass diese scheinbaren Unfälle nicht zufällig zustande kamen und dass Joshua doch mehr damit zu tun hat, als es den Anschein hat. Doch warum sabotiert dieser so ruhige und vorbildhafte Junge die Interessen der Familie und vor allem was sind seine Motive dafür?
Brad wird in seinem Können im Nachforschen und Kombinieren einiges abverlangt, denn der sadistische Einfallsreichtum seines Sohnes setzt mit jedem Streich noch einen drauf.
Mit „Joshua“ hat George Ratliff erst seinen vierten Film abgedreht – mitwirkend als Regisseur und Drehbuchautor – und das wie ich finde mit sehr viel psychologischem Gespür und gekonnter Manipulation der Zuschauererwartungen.
Zu Beginn nimmt man noch die Seite des Jungen ein. In ruhigen Bildern gibt uns Ratliff einen guten Überblick über die Situation der Familie und lädt den Zuschauer dabei schon darauf ein, das Schicksal des eigenartigen Jungen zu teilen, der aufgrund seiner Schwester Lily eine Art Statistenrolle in der Familie einnimmt, ganz ohne Freunde auf sich allein gestellt ist und selbst von seinen Eltern aufgrund mangelnder Auseinandersetzung unverstanden und fremd bleibt. In einem der wenigen Gespräche mit dem Vater verrät der Sohn, dass ihn Fußball und Baseball, das er aufgrund der elterlichen Entscheidung aktiv betreibt, nicht interessiert und dass er denkt er sei eigenartig und verdiene vielleicht gar nicht die Zuneigung der Eltern. Dass die Eltern Joshuas Probleme nicht ernst nehmen, zeigen die unbeantworteten Versuche des Knaben Aufmerksamkeit zu erregen, er eröffnet seinem Vater auch, dass er sich für etwas ganz anderes interessiert. Doch dieser fragt nicht nach, sondern versichert seinem Sohn nur, dass er ihn liebe und dass er tun dürfe was er wolle.
Daraufhin vertieft Joshua, quasi des Vaters Ratschlag wörtlich nehmend, auch seine Interessen und Praktiken des Sezierens und Zerstörens. In einer Szene zeigt Joshua seine Veranlagungen ganz deutlich. Er baut aus Klötzen einen Wolkenkratzer, zeigt seinem Vater das Resultat und macht sich mit dem Kommentar „jetzt kommt das beste“ daran, das Erbaute zu zerstören. Der Vater ist empört, unternimmt aber keine konsequenten Schritte.
Als Voyeur verschafft sich Joshua ein Bild von der Situation und den Problemen seiner Eltern und nutzt die erkannten Schwächen aus, um unerkannt erheblichen Schaden anzurichten. Sehr lobend muss an dieser Stelle Benoît Debie’s innovative Kameraarbeit hervorgehoben werden. Obwohl größtenteils auf die Wohnstätte der Familie und das Büro des Vaters in einem Wolkenkratzer beschränkt, schafft Benoit die Schauspieler aus interessanten und visuell beeindruckenden Perspektiven in Szene zu setzen und den Zuschauer an sehr intimen und höchst emotionalen Momenten der Familie Cairn teilhaben zu lassen. Man fühlt sich an manchen Stellen schon fast wie Joshua in die Rolle eines Voyeurs versetzt.
Ungewöhnlich vielfältig erweist sich auch die Kameraführung, wenn sie zum einen Brads Berufsalltag unbeschwerlich und dynamisch und zum anderen Abby’s anwachsende Paranoia in klaustrophobischer und schwer verdaulicher statischer Bildkomposition festhält und den Zuschauer dabei mit in die Handlung einbindet. Wenn Joshua auf seinen nächtlichen Streifzügen durch das Appartement sich immer mehr dem friedlich schlafenden Baby nähert und es minutenlang beobachtet, um es letztendlich unsanft zu wecken, hält man regelrecht die Luft an.
Der Zuschauer kann sich der Anteilnahme am Geschehen gar nicht entziehen und ist bis zum Ende der immer kräftiger anziehenden Spannungsschraube ausgeliefert. Sehr gekonnt und effektiv wird hier mit dem Einsatz von Close-Up-Shots, also den Nahaufnahmen von den Darstellern, gearbeitet.
Benoît Debie ist, wenn man seine Leistung als Kameramann betrachtet, kein Ausnahmetalent. Seine mit Gaspar Noè neu-kreierte, entfesselte Rotierkamera in
„Irreversible“ setzte bereits vor 5 Jahren neue Maßstäbe und sorgte für ganz außergewöhnliche Seherfahrungen, weiterhin arbeitete Debie auch mit Dario Argento in „The Card Player“ zusammen und wurde für seinen cinematographischen Beitrag zu Lucile Hadzihalilovic’s „Innocence“ 2004 auf dem Stockholmer Filmfestival mit dem Jurypreis für die beste Kamera gewürdigt.
Ratliffs Beitrag macht es einem nicht leicht, Stellung zu beziehen und sich mit einem Darsteller zu identifizieren. Irgendwie erscheint das Verhalten der Beteiligten unter gewissen Aspekten verständlich und nachvollziehbar, abgesehen vielleicht von Joshuas besonders zum Schluss hin übersteigerten, sadistischen Intrigen – doch auch das kann man als ein überspitztes Filmdramaturgie-Mittel gelten lassen. Schließlich erfuhr der Junge von Geburt an wenig Zuspruch und absolut keine für jeden Menschen notwendige mütterliche Zuneigung und Liebe. Joshuas Wandlung zur kalten Emotionslosigkeit und noch kaltblütigeren strategischen Planung und Opportunismus überrascht deswegen nicht sonderlich.
Sam Rockwells Darstellung des Vaters Brad Cairn ist ebenfalls sehr beeindruckend und verdient schon am ehesten die Sympathie des Zuschauers, wobei auch diese zum Schluss in einer Sackgasse endet. Stellenweise stellt er mit seiner charmanten, aber gleichzeitig auch zu beflügelten und sorgenlosen Art Jacob Kogans intensives düsteres Spiel in den Schatten. Es ist sehr erfreulich wie wandlungsfähig Rockwell ist, wenn man sich an seine zwielichtige Rolle als Antiheld in George Clooney’s „Confessions of A Dangerous Mind“ aus dem Jahre 2002 erinnert.
Alles in allem ist Ratliffs Film eine exklusive Empfehlung für jeden, der einen gelungen Film nicht nach bombastischen CGIs und zum aus der Haut fahrenden Schockeffekten definiert. „Joshua“ bietet an dieser Stelle vielmehr eine tiefgründige, visuell und akustisch meisterhaft konstruierte Erfahrung, die nach Ende der Vorstellung zu einer tiefer gehenden, persönlichen Auseinandersetzung mit dem Inhalt anregt.
Trotz der ernsten Thematik und der beklemmenden Inszenierung kommt der Film in punkto Humor nicht zu kurz. Dieser setzt sich hauptsächlich aus gut geschriebenen Dialogen und perfekt getimtem Wortwitz zusammen.
Wenn der Film dann nach einer eindreiviertel Stunde zu Ende ist und der letzte Twist seine Wirkung hinterlassen hat, kann es passieren, dass man noch eine Weile auf dem Platz verharrt und Opfer eines nostalgischen Deja-vù’s wird. Eines in dem man so großartige Filme wie „Rosemary’s Baby“ und „Das Omen“ noch einmal Revue passieren lässt, als der Horror noch von einer gekonnt konstruierten Handlung und überzeugendem Rollenspiel der Schauspieler lebte.