4 Jahre vergingen nach seinem preisgekrönten Sozial-Drama
„Menschenfeind“, bis Gaspar Noé wieder einen weiteren äußerst verstörenden Film präsentierte. Mit „Irreversible“ knüpfte der Regisseur und Drehbuchschreiber an seinem Vorgänger an und schaffte ein Werk, das sogar noch mehr erschüttert, erschreckt und einen noch tiefer in die perfide, versteckte Charakterseite des Menschen eintauchen lässt.
Ebenso wie „Menschenfeind“ wurde Irreversible in Cannes erstmals aufgeführt - und ging leer aus. Vielleicht weil das Publikum noch nicht reif genug für einen solchen Film war.
Gleich nach dem Abspann (kein Schreibfehler) schweift die Kamera in eine Wohnung, die mehr einer Zelle gleicht. Ein dicklicher alter Mann um die 50 sitzt auf dem Bett und unterhält sich mit seinem Zimmergenossen. Es ist der Schlächter aus „Menschenfeind“, der voller Wehmut (auf der Grundlage dessen, was nach dem Finale des Films passierte) philosophiert und dabei einen Satz von sich gibt: „Die Zeit zerstört alles“. Diese Quote hat nicht nur Bezug auf seine Geschichte, die hier offenbar ihren Abschluss findet, sondern schlägt auch eine Brücke zu den Ereignissen, die von nun an auf den Zuschauer einstürzen.
In steter Bewegung rotiert die Kamera von den zwei Alten weg auf die Straße und fängt eine Szene aus einem Nachtclub von gegenüber ein.
Einsatzfahrzeuge von Polizei und Rettungsdienst sind vo
r Ort. Zwei Männer sind involviert gewesen in ein Geschehen, von dem man nur den Ausgang mitbekommt: einer der beiden, ein junger Mann, wird in einer Trage abtransportiert, der andere in Handschellen. Die Kamera rotiert auf einer unsichtbaren horizontalen Ebene und bringt einen weiteren Ort in Szene. Zeitlich um einige Minuten zurück versetzt.
Selbige Männer verschaffen sich in einem Rausch von Rache- und Vergeltungsgelüst gewaltsam Eintritt in den Schwulen-Club „Rectum“. Sie sind auf der Suche nach einem Mann namens La Tenia. Dieser soll eine Frau vergewaltigt haben. Es kommt zu einem Handgemenge zwischen einem Verdächtigten aus dem Club und einem der beiden Eindringlinge. Der Schwule überwältigt den Angreifer und bricht ihm kurzerhand den Arm. Sein Freund schreitet ein und zertrümmert dem vermeintlichen Vergewaltiger mit einem Feuerlöscher den Schädel – mit über 23 Einschlägen. Die Kamera pulsiert mit und scheint bei jedem Ausholen mit zu schwingen und auf den Kopf des überrumpelten Schwulen einzudreschen – 23 Mal!!! Niemand von den Umstehenden greift ein. Der Zuschauer kann nicht nur mitzählen, sondern erlebt auch in aller Deutlichkeit die Wirkung jedes Einzelnen Einschlags. Die Kamera schweift ab und taucht in eine neu Szene ein – ein Kapitel zuvor. Auch in dieser Szene sind die beiden Männer von zuvor Hauptakteure. Es handelt sich um zwei Freunde – Marcus (Vincent Cassel, bekannt aus dem Film „Hass“) und Pierre (Albert Dupontel). Marcus rempelt in blinder Rage – das vergewaltigte Mädchen ist seine Freundin – die Menschen auf der Straße an, pöbelt einen Taxifahrer, der nicht gleich versteht, wohin die beiden Passagiere gebracht werden möchten, an und ist nicht zu beruhigen. Pierre hat in seinem Versuch, den Freund zur Vernunft zu bringen, keinen Erfolg.
Wieder ein Kapitel zurückgeworfen, werden wir Zeuge wie Marcus und Pierre am Gesicht einer fast bis zur Unkenntlichkeit geprügelten, vergewaltigten Frau ihre gemeinsame Freundin Alex identifizieren, während die Sanitäter sie wegbringen.
Neue Szene, ca. eine Stunde früher. Eine hochgewachsene Frau in einem rückenfreien Cocktail Kleid, gespielt von Monica Bellucci, geht elegant auf dem Bürgersteig eines verwahrlosen Viertels im nächtlichen Paris. Da die Straße, die sie überqueren will, zu dicht befahren ist, entscheidet sie sich, eine Unterführung zu benutzen. Eine schicksalhafte Entscheidung, denn hier fällt der Drogendealer La Tenia über sie her. Provoziert von ihrem eleganten und reizvollen Äußeren, schlägt der etwas untersetzte, aufdringliche Kleinkriminelle sie zusammen, erniedrigt sie und kündigt der Schluchzenden an, sie „in den Arsch zu ficken“.
Das tut er dann auch auf brutalster Weise – 11 Spielfilm-Minuten lang, wobei die Kamera erstmals in eine statische Position in Höhe des Gesichtes der Frau ruht und die ganze Vergewaltigung ohne Schnitt filmt.
Nach verrichteter Tat tritt der Vergewaltiger der Wehrlosen noch so lange ins Gesicht, bis sie ohnmächtig wird.
Jetzt erst wird der Zuschauer erlöst und erlebt Alex, in einem wieder zeitlich zurück versetzten Abschnitt, auf einer Party, begleitet von ihrem Freund Marcus und ihrem Ex Pierre. Die drei sind gut gelaunt und reden über die Vergangenheit, von der Zeit als Pierre noch mit Alex zusammen war und über ein philosophisches Buch, das Alex momentane Lektüre ist. Der Inhalt ist die Zeit, die Zukunft und dass jeder Mensch von versteckten Vorahnungen, was ihn in Zukunft erwartet, umgeben ist.
Schließlich erfahren wir wie Marcus und Alex am Morgen des Tages aufwachen und wie Alex ihrem Freund ausschlägt, Analsex zu machen.
Noé schafft mit „Irreversible“ wiederum ein Meisterwerk, das schon alleine durch die extravagante Kameraarbeit unnachahmlich und einmalig ist. Am passendsten lässt sich die Kamera hier als ein höchst sensibler Apparat beschreiben, dessen Dynamik und Bewegung überaus empfindlich mit der Gesamtstimmung der Situation und der emotionalen Innenwelt der Protagonisten verlinkt ist. So scheint zu Beginn der Zuschauer, der noch überhaupt keinen Schimmer hat, was vor sich geht, der Lenker der Kamera zu sein. Sie rotiert ziel- und bezugslos umher – man erkennt fast nichts. Je weiter jedoch die Handlung vorangeht, desto inhaltsbezogener wird sie und erzielt dadurch bei der Gewaltszene mit dem Feuerlöscher und der 11-Minutigen Vergewaltigungsszene die denkmöglichste, intensivste Wirkung.
Manchen Menschen war die Darstellung des schrittweise Deformierung des Gesichts so realistisch-radikal, dass sie bei der Premiere-Vorführung in Cannes den Saal verließen.
Wahrscheinlich das größte Kompliment für Regisseur Noé, dessen größtes Bemühen stets ist, die Realität ungeschminkt und unmittelbar auf die Leinwand zu bannen.
Die Dialoge sind ebenfalls sehr authentisch – dabei hatte Noé sie größtenteils nur skizziert und die Hauptakteure Bellucci/Cassel/Dupontel mussten viel Improvisationsarbeit leisten.
Die Story ist nicht sehr komplex, dennoch sehr tiefsinnig und gespickt voller Informationen und kleinen Details, die sehr wichtig für das Gesamtbild sind.
Z.B. bedeutet der Filmtitel nicht nur, dass die Geschichte rückwärts erzählt wird, sondern steht auch für die Aussage des Films „die Zeit zerstört alles“ – das Geschehene ist nicht umkehrbar und somit nicht wieder gut zu machen.
Zum Schluss des Films – also zu Beginn der chronologischen Handlung – will Marcus von seiner Freundin Analsex. Diesen verweigert sie ihm. Das kann sie später beim Gewalttäter La Tenia (aus dem Spanischen übersetzt „Der Bandwurm“) nicht. Die anale Penetration verschafft dem Agierenden nicht nur die Kontrolle über den Anderen, sondern auch die Möglichkeit, diesem Schmerz und Demütigung zuzufügen. Das versucht später Marcus auch mit dem vermeintlichen Täter, wird aber von diesem überwältigt und selber zum Opfer. An einem Ort, der sich „Das Rectum“ nennt und in welchem die Menschen ihren sado-masochistischen Trieben nachgehen.
„Irreversible“ ist nicht nur ein faszinierendes Machwerk eines cineastischen Künstlers, sondern überzeugt auf ganzer Linie durch das originelle Filmkonzept, den virtuosen Stil und die einmalig eindringliche schauspielerische Leistung sämtlicher Schauspieler. Durch die krassen Soundeffekte, die wie im
„Menschenfeind“ an jede Bewegung der rastlos-dynamischen Kamera geknüpft sind, und den subtilen, düsteren Soundtrack entsteht eine so intensive, realistische Atmosphäre, dass einem jegliche Möglichkeit genommen wird, sich von der Handlung zu distanzieren und sich nach der Vorführung nicht mit dem Film auseinander zu setzen.