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von Bernhard Braunstein, Martin Hasenöhrl




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Fahrenheit 451

Fahrenheit 451

Ein Film von François Truffaut

(England, 1966)



„There is nothing! The books have nothing to say!"



Bücher haben in der Geschichte des Abendlandes ein einzigartiges, sakrosanktes Image.

Vor allem in dystopischen Erzählungen symbolisieren sie Wahrheit und Widerstand. Mächtiges Wissen, das früher oder später jedes politische Unrechtssystem zum Einsturz bringen kann. Das mag auf den ersten Blick wenig verwundern, denn etliche politische Umwälzungen und kulturelle Erneuerungen in der modernen Geschichte, große wie kleine, wären ohne die Verbreitung der Schrift nicht vorstellbar. Luther. Hobbes, Rousseau, Descartes und Kant. Marx und Engels. Sophie Scholl und die weiße Rose. Der gute Ruf des gedruckten Wortes ist kein Zufall - und ungerechtfertigt ist er auch nicht.

Aber merkwürdig bleibt es dennoch.

Bücher bleiben doch, bei Lichte betrachtet, nichts anderes als ein Medium. Ein Medium ist lediglich der Träger einer Botschaft. Es kann also kaum per se gut oder schlecht sein. Bücher sind genausowenig an und für sich gut, wie die Flimmerkiste immer nur böse ist. Und Bücher können genauso zum Träger des Ungeistes degradiert werden.

Die Liste könnte also auch lauten: Hitler, Rosenberg, Mao, Gobineau, Chamberlain.

Genausogut können Bücher nichts anderes sein als Papierverschwendung. Es gibt welche, die tragen Autorennamen wie Dieter Bohlen, Stefan Effe
nberg oder Hans-Werner Sinn.

Trotzdem hat der Lauf der Geschichte dem Buch den Ruf eingebracht, gerade dort die Fackel des Lichtes zu tragen, wo politisch finsterste Nacht herrscht. In George Orwells 1984 ist es die verbotene Schrift des Volksfeindes Immanuel Goldstein, die den Protagonisten Winston Smith endgültig zum Widerstandkämpfer macht.

In Fahrenheit 451 errichtete Ray Bradbury, einem der britischen Meister der philosophischen Science Fiction, dem Buch ein ewiges Denkmal. In seiner Zukunftsvision eines Polizeistaats sind Bücher und Lesen verboten, ist die Schrift durch den Fernseher ersetzt worden. Die Feuerwehr ist nicht dazu da, Brände zu löschen, sondern Bücher aufzuspüren und zu verbrennen. Der Schauer, der einem bei dieser Vorstellung überkommt, leitet sich nicht nur aus der Paradoxie dieser Idee, sondern auch aus den Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit ab.


Ewiges Problemkind Literaturverfilmung

Mit einer Literaturverfilmung wagte sich der Franzose Francois Truffaut an ein Sujet, dass 1. überhaupt nur dann als solches wahrgenommen wird, wenn auch die Literaturvorlage bekannt ist, und 2. von Kritikern mit Pawlowscher Zuverlässigkeit in die Tonne geschrieben wurde. Denn im Feuilleton war es Jahrzehnte lang abgemachte Sache, dass der Film ein Kunstwerk niederer Machart sei. Oberflächliche Rummelplatzbespaßung für die Masse, dem Roman in allen künstlerischen Belangen unterlegen. Als Truffaut selbst noch Filmkritiker war, spürte er diese Geringschätzung ständig. Als er zum Beispiel einen Film von Louis Malle zerriss, orderte ihn der Chefredakteur ins Büro und motzte: „Der Film ist doch gar nicht schlecht. Meine Frau findet ihn sehr gut.“ (So was soll bei deutschen Medien mitunter noch heute vorkommen. „Filmkritiken? Ach, dass lassen wir meistens unsere Praktikanten machen. Ist doch einfach sowas.“)

Truffaut war weitsichtig genug zu wissen, dass eine werkgetreue Verfilmung nicht lohnt und entschied, seiner Version von Bradburys Stoff Qualitäten angedeihen zu lassen, die nur das Kino bieten kann. Eine dieser Qualitäten heißt Oskar Werner, die andere Julie Christie.
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Werner spielt den Feuerwehrmann Montag, der kurz vor der Beförderung steht und wie durch einen Wink des Schicksals seine neue Nachbarin, die Lehrerin Clarisse (Julie Christie) kennen lernt. Sie versteckt zusammen mit einer alten Frau (Bee Duffell) eine Bibliothek in ihrem altem Haus. Auf einem seiner Einsätze überfällt Montag schließlich die Neugier. Er steckt heimlich ein Buch ein, Charles Dickens David Copperfield. Der Weg zum Systemgegner beginnt mit dem unscheinbaren Geständnis: „Letzte Nacht habe ich gelesen.“

Es ist zugegeben nicht ganz einfach zu sagen, worin Werners schauspielerische Leistung besteht. Im Gegensatz zu gängigen Interpretationen finde ich nicht, dass seine Figur eine all zu radikale Wandlung durchlebt, die es durch entsprechendes Acting zu illustrieren gelte. Montag ist zu Beginn durchaus angepasst. Doch es ist keine glühende Affirmation, die alle totalitären Systeme bei den Beherrschten sehen wollen. Eher ein dumpfes, passives Hinnehmen des Staus Quo. In manchen Szenen scheint bereits sehr viel Distanz in seinen Zügen zu liegen. Werner spielt auch nicht sehr expressiv, eher mit spöder Eleganz. Vielleicht hat es etwas mit seinem Charisma zu tun. Oder seiner unverwechselbaren, ausdrucksstarken Stimme. Gott sei Dank synchronisierte er viele seiner internationalen Produktionen selbst.

Julie Christie beweist ihr Können gleich in zwei Rollen: als Clarisse (mit kurzen Haaren), die Widerstand und Andersartigkeit verkörpert, und als Linda (mit Langhaarperücke), Montags von Dauerfernsehkonsum und Dauerdrogenrausch bedröhnte Ehefrau, die ihn später verraten wird. So apathisch und hohl, wie sie als Linda fast unentwegt aus der Wäsche glotzt, so aufgeweckt und tiefgründig glänzen ihre Augen, wenn sie Clarisse spielt.


Dystopische Visionen

Das Gesellschaftsbild, das Bradbury entwirft und Truffaut adaptiert, ist fast prototypisch für angelsächsische Dystopien und bezieht seine Kritik fast immer auch aus dem Anti-Kommunismus dieser Tage. Gleichheit geht vor Individualität, Gemeinschaftssinn vor Idiosynkrasie. Dabei ist das Gemeinschaftsgefühl, das über Medien und Alltagsrituale kultiviert und verfestigt wird, nur Illusion. Sie täuscht Verbundensein vor, wo in Wirklichkeit nur Einsamkeit herrscht.

Die Szene mit dem ‚Familientheater’ illustriert das überdeutlich. Da sitzt Linda vor der Bildschirmwand und will bei einem Gesellschaftsspiel mitmachen, bei dem sich ihre Rolle ausschließlich darauf beschränkt, mit Ja oder Nein zu antworten. Und da der Fernseher lediglich Empfänger ist, und nicht wie bei Orwells Televisoren auch Sender, sind ihre Antworten letztlich egal. Truffaut zeigt uns das Bild eines zu Passivität und Lethargie verdammten Mediennutzers, der nur noch konsumieren kann, und will.


Truffauts Stil

In einer Alf-Folge heißt es: "Willi, das hier ist kein komplizierter Truffaut-Film." Ich dachte also jahrelang, seine Filme seien eine typische, intellektuelle Quälerei. Doch im Vergleich zu beispielsweise seinem Landsmann Jean-Luc Godard ist Truffauts Stil doch eher flüssig, fast gefällig. Nicht wenige seiner Filme arbeiten mit unterhaltsamen, publikumsfreundlichen Topoi, wie die eiskalt geplante und servierte Rache einer Frau (Die Braut trug schwarz, 1975) oder einem liebestollen Typen, dem es besonders die Beine der Damen angetan haben (Der Mann, der die Frauen liebte, 1977).

Auch Fahrenheit 451 kann man gut folgen. Doch trivial ist der Film keineswegs. Dafür sorgt schon das Sujet, in dem eine gewisse Schwere liegt. Dafür sorgt die Musik, komponiert von niemand geringerem als Bernard Herrmann (Alfred Hitchcock). Ein gewohnt klassisch instrumentierter Score, der fast einen barocken Kontrast zum futuristischen Thema bilden könnte – hätte der Regisseur nicht fast komplett auf eine solche Ausstattung verzichtet. Wenn die Bildwand nicht wäre – eine gute Voraussicht auf die Flatscreens – man könnte fast nicht mehr Science Fiction dazu sagen. Nur eine kleine Handvoll Bluescreen-Effekte kommen überhaupt zum Einsatz. Dass die zu diesem Entstehungszeitpunkt nicht 'over the top' sein können, leuchtet hoffentlich jedem ein. (Trotzdem gibt es Menschen, die diesem Film technische B-Movie-Qualität vorwerfen. Die Finger sollen ihnen beim Tippen abfaulen.)

Selbst die exotisch anmutende Hochbahn ging nicht auf das Konto der Phantasie der Produktionsdesigner, sondern war damals bereits im französischen Chatneauneuf-sur-Loire als Pilotprojekt in Betrieb.
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Doch nicht nur hat Truffaut auf futuristisches Design verzichtet (das ja irgendwann eh altert). Es sieht eher so aus, als wolle er gerade die Kinogänger sabotieren, die glauben, einen waschechten Science Fiction-Streifen erwarten zu können. Immer wieder platziert er Gegenstände vor der Kamera, die eher ins Museum gehören. Telefone mit Riesenohrmuscheln zum Ankurbeln. Ein Barbiermesser für Montag zum Geburtstag, der elektrische Rasierer landet im Müllkorb. Zwischen diesen wiedersprüchlichen Elementen: die kalte, schmucklose Londoner Nachkriegsarchitektur der damaligen Gegenwart. Ein Wink dahin, dass Bradburys Dystopie - wie jede Dystopie von Weltrang - ihren Kern in Vergangenheit und Gegenwart hat.

Truffaut und sein Wille zu ästhetischen Schauwerten toben sich vor allem im Vorspann aus. Hier zoomt die Kamera (Nicolas Roeg!) immer wieder auf Häuserantennen. Zwar mit verschiedener, verfremdender Hintergrundfarbe und Perspektive, doch die Antennen sehen doch alle gleich aus. Sie symbolisieren Menschen, die genauso unindividuell sein sollen wie der Empfänger auf dem Dach. Und so austauschbar. Und wenn man einen Film über eine Gesellschaft dreht, in dem die Schrift verboten ist, ist es konsequent, auch auf Schrift im Vorspann zu verzichten und den Produktionsstab stattdessen zu verlesen.

Oder immer wieder, wenn sich bei Bücherverbrennungen die Flammen über die Seiten fressen, über die großen Romane und Erzählungen der vergangenen Jahrhunderte, über die Schriften der Philosophen, über das gesammelte Wissen und die kulturellen Praktiken der Menschheit. Diese Szenen wirken fast schon masochistisch. Beinahe mit Wonne gleitet die Kamera immer wieder über die verbrennenden Bücher, fängt die Momente ein, wo eben noch ein beschriebenes Stück Papier, ein mit Sinn, Gedanken und Gefühlen bestücktes Medium, mit leisen Zischen zu einem wertlosen Haufen Asche verbrennt.

Oder in den kleinen Verfremdungseffekten hier und da. Wenn die Leinwand für eine Zeit lang auf die Hälfte schrumpft, wie bei einem Split-Screen, nur bleibt die andere Hälfte dunkel, während Herrmanns Streicher anschwillen. Oder in den plötzlichen Zeitlupensequenzen.

Oder, selbstredend, in den vielen kleinen Reminiszenzen an den heiß verehrten Alfred Hitchcock.

Truffaut wusste um die Symbolkraft von Bildern, Kameraeinstellungen und anderer visueller Techniken. Aber er wusste auch, dass dieser gesellschaftskritische Erzählstoff immer Luft zum atmen braucht.

Interessant zum Beispiel ist die Autoerotik, die sich immer wieder in die Einstellungen einschleicht. Menschen, die sich immer wieder selbst berühren und betatschen. Gedankenvergessen in der Hochbahn. Eine Frau küsst ihr Spiegelbild im Fenster. Oder ein Mann auf dem Spielplatz, von dem man erst noch denkt, er fummelt mit seiner Freundin, um dann im nächsten Moment zu sehen, dass er allein ist und nur mit sich selbst fummelt. Eine Auflösung gibt es dafür nicht. Doch einen Anhaltspunkt liefert die vielleicht grandioseste, erschütternste Szene des Films, in dem Montag seiner Frau und ihren „schwachsinnigen“ Freundinnen eine Passage aus David Copperfield vorliest (im schwarzen Rollkragenpulli!), in der David den Tod seiner Frau Dora beschreibt und eine der Frauen in Tränen ausbricht, um sich sofort ihrer zu schämen, denn Gefühle sind in dieser Welt genauso verpönt. Eine Gesellschaft, die den Kontakt zu ihrer Kultur, ihrem Wissen und ihrer Geschichte verliert, kann genau so gut den Kontakt zu ihren Gefühlen verlieren. Was bleibt, sind evolutionär bedingte und unbewusst ausgeführte Ersatzhandlungen.
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Die andere erschütterndste Szene ist die, wo sich die alte Dame lieber mit ihren Büchern verbrennt, als sich von der Feuerwehr abführen zu lassen. Es ist die Szene, in der Truffaut Heinrich Heines berühmtes (mitunter auch überstrapaziertes) Zitat illustriert, dass man dort, wo man Bücher verbrennt, auch Menschen verbrennt.

Und natürlich der Schluss. Wo Montag und Clairisse zu den Buchmenschen in die Wildnis flüchten. Eine Enklave von Ausgestoßenen und Aussteigern, die ihr Lieblingsbuch auswendig lernen und danach (Achtung: Ironie!) verbrennen, um es für die Nachwelt zu bewahren. Werner und Christie laufen durch den verschneiten Wald, sie lernt Saint-Simons Erinnerungen, er die Unheimlichen Erzählungen von Edgar Allan Poe. Ihr Gemurmel vermischt sich mit dem der anderen, es wird zu einem großen Ganzen, ein Gewimmel und Wehklagen, ein Meer aus Zitaten von dem, was andere Menschen ersonnen und erschaffen haben, aufgehoben und konserviert für vielleicht bessere Zeiten.

Es ist völlig überflüssig all die Unterschiede zwischen Roman und Film aufzuzählen und zu hinterfragen. Oder zu erwähnen, dass viele Ideen aus Bradburys Buch nicht übernommen werden konnten. Es sind keine gravierenden Veränderungen dabei, die aus dem Stoff etwas Schlechteres machen würden. Das reicht auch völlig. Interessanter ist, dass ein Film so konsistent und homogen, als Gesamtkunstwerk daher kommen kann, obwohl sich zum Beispiel Truffaut und Werner am Set heillos zerstritten und nach der letzten Klappe nie mehr ein Wort wechselten. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1984, und der liegt nur wenige Tage auseinander.

Truffauts Verfilmung verströmt, trotz des dunklen Themas, eine leuchtende, betörende Wärme, die aus den Bildern ins Herz flutet und dort einen Weihnachtsbaum entzündet (Fahrenheit 451 kam am 23. Dezember in die deutschen Kinos). Ein britischer Schriftsteller und ein französischer Regisseur haben ein Vermächtnis erschaffen. Seine Bedeutung bleibt so lange bestehen, wie Menschen noch Kraft, Zeit und Lust dazu haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und ein gutes Buch zu lesen.

Oder einen guten Film zu schauen.

Eine Rezension von Gordon Gernand
(26. März 2010)
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Daten zum Film
Fahrenheit 451 England 1966
Regie François Truffaut Drehbuch Ray Bradbury (Romanvorlage); Francois Truffaut (Drehbuch)
Produktion Anglo Enterprises; Vineyard Film Ltd. Kamera Nicolas Roeg
Darsteller Oskar Werner, Julie Christie, Cyril Cusack, Bee Duffell, Anton Diffring
Länge 112 Min. FSK
Filmmusik Bernanrd Herrmann
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