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Gegen die Wand

Gegen die Wand

Ein Film von Fatih Akin

Ein ungebremster Frontalcrash mit dem Auto gegen eine Wand hat für den arbeitslosen, trinkenden und drogensüchtigen Cahit Tomruk (Birol Ünel) – nach unseren sozialen Maßstäben ein waschechter Penner – schwer wiegende Folgen. Und das nicht nur aus medizinischer Hinsicht. Dieser Unfall verändert sein Leben von Grund auf.
In einer Klinik in Hamburg lernt er zwischen seinen Physio- und Psychotherapien die junge Türkin Sibel (Sibel Kekilli) kennen – und sie, deren Aufenthalt in der Klinik ebenfalls ein gescheiterter Suizidversuch ist, bittet ihn bei ihrer ersten gemeinsamen Begegnung sie zu heiraten.
Alles andere als romantisch, denn Sibel befindet sich in einem Zustand tiefster Verzweiflung. Ihre konservative türkische Familie, insbesondere der Bruder Yilmaz (Cem Akin) und ihr ergrauter Vater (Demir Gökgöl), dulden ihren freizügigen Lebensstil nicht. In ihren Anfang-Zwanzigern hat Sibel nämlich nur Ausgehen, Sex und Drogen im Sinn, was zur Folge hat, dass ihr Vater ihr droht sich von ihr abzuwenden und ihr Bruder sie bei weiter anhaltender Familienehrenbeschmutzung kurzerhand „wegwischt“.
Cahit auf der anderen Seite beschränkt seine Ambitionen auf das Sich-über-Wasser-Halten, hat vor langer Zeit seine Frau verloren und ist ein desillusionierter, gebrochener Mensch, der den einzigen Trost im Alkohol und Drogen findet. Cahits einzige Geldeinnahmequelle ist eine Beschäftigung als Glasabräumer in einem Club genannt „die Fabrik“. Von
dem mageren Verdienst schafft er mit knapper Mühe und Not gerademal die Miete für seine Ein-Zimmer-Wohnung zu bezahlen.
So ein daher gelaufenes junges, naives Ding ist das letzte was er im Moment braucht. Doch als Sibel nach Abschlagen ihrer Bitte vor seinen Augen sich mit einer Glasscherbe die Pulsadern aufschneidet, zerrüttet das selbst den eingefleischten und kompromisslosen Einzelgänger. Cahit geht auf Sibels Angebot ein, hält der Tradition gemäß über seinen Onkel (einfach traumhaft witzig Güven Kirac) bei Sibels Familie um ihre Hand an, heiratet sie und sie zieht zu ihm in seine kleine Wohnung.
Gegen die WandGegen die WandGegen die Wand
Vor dem Gesetz (sowohl dem deutschen, als auch gemäß dem türkischen Familienbrauch) sind sie nun Mann und Frau und die Familie entlässt die Tochter Sibel in die Obhut ihres neuen türkischen Mannes.
Doch unter den Frisch-Vermählten sind ganz andere Abmachungen getroffen worden: beide sind einander zu keiner Rechtschaffenheit verpflichtet, außer dass die Miete geteilt wird und Sibel die Wohnung sauber hält. Sibel strahlt vor Glück, dass sie endlich „tanzen und ficken“ gehen kann – und genau das macht sie, wortwörtlich und in dieser Reihenfolge – und ihrer tyrannischen Familie entkommen ist. Für Cahit jedoch bringt diese neue Situation auf den ersten Blick keine praktischen Vorteile.
Erst mit der Zeit wird ihm bewusst, dass er zum ersten Mal seit langem eine nicht eigennützige Tat vollbracht hat. Und nun ist er jeden Tag Zeuge wie Sibel sich wie ein Kind über die gewonnene Freiheit freut und ihren Enthusiasmus durch nichts trüben lässt. Auf jede erdenkliche Weise, soweit es die Abmachung erlaubt, bedankt sie sich auch bei ihrem Befreier: sie verwandelt das Chaos in Cahits Wohnung in eine gemütliche Wohnstätte, hält alles sauber, kocht für sie beide und geht arbeiten, um sich an den Unterhaltskosten zu beteiligen.
Ihre Freizeit gehört aber dem Nachtleben und der Erfüllung aller zuvor verbotenen Bedürfnisse wie Drogenkonsum, Feiereskapaden und willkürlicher Sexualverkehr.
Bei all den hedonistischen Aktivitäten kuckt ihr gesetzlicher Ehemann ihr über die Schulter – völlig kommentar- und emotionsarm.

Nach dem traumatischen Verlust der Frau (Einzelheiten werden im Film nie verraten) hat der Witwer seinen Schmerz nur mit Alkohol und Drogen bekämpfen können, so lange bis jegliches emotionale Empfinden in ihm gestorben und er am sozialen und psychischen Tiefpunkt angelangt war. Sehr ähnlich wie der von Robin Williams verkörperte Charakter in „Der König der Fischer“.
Doch durch Sibels dynamische und einnehmende Präsens, ihrer physischen und charakterlichen Anziehungskraft und offener Sexualität leben in Cahit längst verloren geglaubte, verdrängte Gefühle auf. Er verliebt sich in seine Ehefrau und will sie fortan mit niemandem teilen. Unvorstellbar für eine Frau, die gerade ihre grenzenlose Freiheit genießt: „wenn wir jetzt miteinander schlafen, sind wir Mann und Frau“, sagt sie als Cahit ihr offenbart, dass er sie begehrt – was Schlimmeres kann sich die Unbändige nicht vorstellen.

So kommt es auch zum fatalen Gefühlsausbruch als Sibel mit Nico (Stefan Gebelhoff), einem Bekannten von Cahit, schläft und dieser darauf den Ehemann damit provoziert. Aus Eifersucht und Scham erschlägt Cahit Nico mit einem Aschenbecher. Er wird auf mehrere Jahre eingebuchtet und Sibel merkt plötzlich wie viel sie ihrem Ehemann bedeutet und dass sie allmählich ähnlich für ihn empfindet. Nur kommt diese Erkenntnis ihr viel zu spät.
Sie verspricht ihm auf ihn zu warten und flieht vor den Racheakten ihres in der Familienehre geschändeten und deswegen zur höchsten Gewalt bereiten Bruders zur Cousine Selma (Meltem Cumbul) nach Istanbul. Doch damit verliert die deutsche Türkin auch all ihre Freiheit und muss sich mittellos dem routinehaften Alltag („Arbeiten, Essen, Schlafen“) und einer ganz anderen Lebenskultur fügen.

Nach seiner Entlassung reist Cahit unverzüglich seiner Ehefrau nach Istanbul nach.
Nach langer Suche findet er endlich Sibel, sie verbringen eine leidenschaftliche Nacht miteinander und Cahit bittet sie, ihn nach Hamburg zurück zu begleiten. Doch Sibel gesteht ihm nun, dass sie einen ansässigen Türken geheiratet und von diesem bereits ein Kind bekommen hat. Cahit stellt Sibel darauf vor eine Entscheidung, die sich auf ihr ganzes weiteres Leben auswirkt:
geht sie mit einem Mann, den sie über Jahre lieben gelernt hat fort und lässt alles zurück oder bleibt sie beim neuen Ehemann und Kind, wo sie zwar nicht wirklich glücklich ist, aber wo das Leben zumindest eine gewisse Stabilität verspricht?
Gegen die WandGegen die WandGegen die Wand
Man merkt gleich. Fatih Akin hat in seinen Film aus dem Jahre 2004 ein wirklich dramatisches Thema verpackt. Eine komplizierte Zweckbeziehung zwischen zwei ungleichen Menschen vor dem Hintergrund sozial-kultureller Konflikte der heutigen deutsch-türkischen Mischgesellschaft.
Akin schafft durch lange, ruhige Kameraeinstellungen und durch zahlreiche totale, die Räumlichkeit umfassende Panoramabilder den Darstellern viel Platz sich zu entwickeln.
Zwischen den Hauptfiguren entwickelt sich ein so intensives Band, geflochten durch das ungezwungene, natürliche Spiel und die hervorragende Chemie zwischen den Beiden, dass man als Zuschauer gar nicht anders kann, als in die gemeinsame Welt von Cahit und Sibel einzutauchen. Und sobald man soweit gekommen ist, gibt’s kein zurück.
Akin lässt nach 30 Minuten seine clever konstruierte Bärenfalle zuschnappen und nimmt uns jede Möglichkeit zur Flucht. Wo anfangs das junge türkische Mädchen mit ihren Fesseln alter traditioneller Bräuche unsere Sympathie und Mitleid hatte und man Cahit eher mit Skepsis und Distanz aufgrund seiner selbst verschuldeten erbärmlichen Lage und seiner trotzigen Art begegnete, wandelt sich das ins Umgekehrte.
Sibel nutzt ihre neuen Freiheiten ausschließlich zu ihren eigenen egoistischen Zwecken aus und wickelt alle Männer um sie herum um den Finger. Cahit dagegen kann sich nicht lange wehren und wird zum größten Opfer von Sibel, den sie bei ihren Aufreißtouren durch Hamburgs Nachtleben sogar an ihrer Seite mitschleppt. In Istanbul bekommen jedoch Beide die unbarmherzige Bitterkeit und Unbarmherzigkeit des Lebens am eigenen Leib zu spüren.

Es tut sehr oft geradezu körperlich weh, das von Birol Ünel meisterhaft dargestellte Leiden und das schrittweise Abgleiten der naiven Sibel in den persönlichen Untergang mit ansehen zu müssen. Und wenn man den beiden endlich ein paar glückliche gemeinsame Momente gönnen möchte, wird man als Zuschauer sogleich gleichsam wie die Charaktere im Film von den weiteren schicksalhaften Entwicklungen überrollt.

Gegen die Wand bietet schöne, stilvolle Bilder, eine anspruchsvolle Charakter- und Milieustudie, eine gelungene Paarung von Humor und Tragik, viele überraschende Wendungen und knackige, frappierende Sexszenen. Doch die größte Errungenschaft dieses überragenden Films ist die unbeschreibliche atmosphärische Dichte in der sich die tragischen Schicksale der Hauptdarsteller abzeichnen.

Eine Rezension von Eduard Beitinger
(28. April 2007)
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Daten zum Film
Gegen die Wand Deutschland / Türkei 2004
(Gegen die Wand)
Regie Fatih Akin Drehbuch Fatih Akin
Produktion Bavaria Film International, Corazón International, Panfilm, NDR, Wüste Filmproduktion, arte Kamera Rainer Klausmann
Darsteller Birol Ünel, Sibel Kekilli, Meltem Cumbul, Catrin Striebeck, Güven Kiraç
Länge 121 min. FSK 12
Filmmusik Alexander Hacke, Maceo Parker
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