Wenn Menschen im näheren Umfeld anders sind als man selbst, im Sinne von geistiger Andersartigkeit, neigt man oft dazu, sie zu belächeln. Jeder weiß, dass es schwer sein muss, so jemanden in der Familie zu haben.
Typischerweise werden in Kinofilmen, die aus der Traumfabrik kommen, oft Menschen im Umgang mit diesen Personen gezeigt und wie schwer sie es haben und im Endeffekt ist die Darstellung trotz allen Respekts dem gegenüber doch auch nur eine Darstellung, wie problematisch es mit solche „Problemmenschen“ ist.
Das französische Kino hat in den letzten Jahren bewiesen, dass es sich in Richtung Horror Einiges traut und hat mit die besten, wenn auch sehr harten Horror- und Psychofilme der letzten Jahre abgeliefert, was nicht zuletzt daran lag, dass sie ganz einfach auch mit Konventionen gebrochen haben und sich was getraut haben. Ähnlich scheint diese Richtung im Genre Drama zu verlaufen. Während natürlich auch Amerika weiterhin immer schöne kleine Dramen hervorbringt, die uneingeschränkt sehenswert sind, besinnt sich auch Frankreich auf den Einsatz eigener Stilmittel, während man einfach einen halbwegs normalen Film drehen kann. Das war den Franzosen nicht immer vergönnt.
Nun aber scheint dieser Drang zum Unkonventionellen auch in Frankreichs Kreis der Dramenfilmemacher durchgesickert zu sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass man „Barfuß auf Nacktschnecken“ nicht belächeln, sondern in seiner Gesamtheit eher bewundern sollte.<
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Die Story kreist um die beiden Schwestern Clara und Lily. Während Clara ein gut situiertes Leben führt (tätig in der Anwaltskanzlei ihres gut verdienenden Mannes), fehlt es ihrer Schwester Lily geistig ein wenig an Normalität: sie ist ungehobelt, näht aus toten Tieren Kleidungsstücke und verhält sich nicht gesellschaftskonform. Als die Mutter der beiden plötzlich stirbt, beschließt Clara, eine Weile bei Lily zu bleiben. Das ist natürlich nicht konfliktfrei und gerade Lilys unsorgsamer Freigeist ist es, der zwischen den beiden und auch zwischen anderen Familienmitgliedern immer wieder für Uneinigkeiten und Streitigkeiten sorgt. Doch allmählich zweifelt Clara an der Richtigkeit ihres geführten Lebens und bekommt durch Lily eine Lebensweise vorgelebt, die trotz aller Unzurechnungsfähigkeit irgendwie attraktiv erscheint…
Fabienne Berthaud hat es, um es erstmal kurz zu machen, geschafft, einen teilweise komischen, in seiner Gesamtheit aber vor allem tragikomischen Film zu inszenieren, dessen Stärke eindeutig in seiner Unkonventionalität liegt. Stilistisch gesehen bedient sich der Film zwar bekannter und beliebter Methoden des Independent-Films; da wären z.B. die Emotionen verstärkende Handkamera (teilweise von Berthaud selbst geführt) oder der auffällig eingesetzte Bildfokus auf nebensächliche Objekte im Bild zu nennen. Inhaltlich jedoch traut sich die Regisseurin besonders am Ende, gewagtes Terrain zu betreten. Dass sie damit nicht scheitert, ist dem allgemein sehr neben der Spur inszenierten Film und den beiden bravourösen Hauptdarstellerinnen zu verdanken. Selbst Diane Kruger, die sich in der Vergangenheit nicht gerade mit Ruhm bekleckerte und ausgerechnet in Tarantinos „Inglourious Basterds“ (2009) erschreckend schlecht war, zeigt in „Barfuß auf Nacktschnecken“, dass in ihr eine wunderbare Schauspielerin steckt, wenn sie denn selbst an sich glaubt. Alles andere wäre für diesen Film auch Gift gewesen, denn mit Ludivine Sagnier („Swimming Pool“, 2002) hat sie einen Co-Star an Bord, der schon lange gezeigt hat, was in ihm steckt. In der Tat stiehlt Sagnier auch in diesem Film wieder allen die Show und unterstützt wird sie von einer Kameraführung, die sich vieler Nahaufnahmen bedient und damit stets nah an den Gesichtern ist, sodass man fast meinen könnte, man würde in den Kopf schauen. Sagnier spielt so permanent überzeugend und ungebändigt, dass es eine Freude ist, ihr zuzusehen. Die völlige Unzurechnungsfähigkeit ihrer Figur bringt sie in Gefühlsausbrüchen und selbstverständlichem Anderssein so überzeugend rüber, dass man die Figur trotz aller Widersprüchlichkeiten in sein Herz lässt.
Krugers Charakter, der als völliger Gegenpol dazu die Ruhe und Normalität darstellt, die nach gesellschaftlichen Ansichten ein „normaler“ Mensch besitzen sollte, braucht dagegen etwas länger, bis er sich einen wirklich liebenswerten Platz im Zuschauer verdient hat. Obwohl sie praktisch die Vernunft in all seinen Facetten darstellt, hat es dieser Charakter schwerer, lieb gewonnen zu werden, als Lily, die mit ihrer ungestümen Art trotz aller Unvernunft von Anfang an die Sympathie der Zuschauer hat.
Obwohl Berthaud ihre Regie relativ gleich bleibend gestaltet und sich manchmal nicht recht entscheiden kann, ob sie nun die Vergnüglichkeit oder die Bitterkeit der portraitierten Situation zeigen will (in manchen Szenenabfolgen wechselt sie zu oft und zu krass hin und her und man hätte sich gewünscht, sie hätte bestimmten Momenten mehr und anderen dafür weniger Aufmerksamkeit geschenkt), kann man ihr das Gespür für Stimmungen nicht absprechen. Die Kamera wahr oft keinerlei Distanz zum Geschehen, was den Zuschauer nicht nur nah heranbringt, sondern auch eine Atmosphäre erschafft, die oft für die jeweiligen Momente genau passend ist. Sie bezieht keinerlei Stellung, sondern verfrachtet den Zuschauer mitten in die Situation und beim Betrachten ist er hin- und hergerissen, ob das Gezeigte gerade gut ist oder nicht, ob es einen guten oder einen schlechten Ausgang hat.
Somit ist der Film in vielerlei Hinsicht wenig vorhersehbar, da man durch dieses distanz-, aber auch positionslose Inszenieren seine eigenen Theorien aufstellen kann, von denen erst dann eine bewahrheitet wird, wenn auch wirklich ein Resultat im Film gezeigt wird.
Als gutes Beispiel dient eine Lagerfeuerszene im letzten Drittel des Films. Durch einige vorankündigende Szenen kann sich der Zuschauer eventuell ausmalen, was passieren KÖNNTE, ist sich aber bis zum tatsächlichen Eintritt, dem Close-Up sei dank, nicht sicher, in welche Richtung das Ganze wirklich gehen wird. „Barfuß auf Nacktschnecken“ profitiert ohnehin ungemein von der Etablierung der Nahaufnahme zu Zeiten „Casablanca“s (1942), denn in den Gesichtern der beiden Hauptprotagonistinnen spielt sich hier so extrem viel ab und es ist wirklich auch immer wieder extrem spannend und verführerisch, lange in sie hineinsehen zu dürfen und zu versuchen, etwas daraus abzulesen. Das ist das Geschenk, das der Film uns Zuschauern macht.
Neben all dem schneidet der Film erfreulicherweise auch ganz andere Themen an. Der Umgang mit einem solch schwierigen Menschen wie Lily wird von der Mutter von Claras Mann an einer Stelle bezeichnend als „Kind, das ihr gemeinsam haben könntet“, beschrieben, eine Aussage, die den Kern trifft. In der Tat gestaltet sich das Zusammenleben mit Lily also so sehr fremdbestimmt, als müsse man sich ständig um ein Kleinkind kümmern und aufpassen, dass es nicht irgendwo Unsinn anstellt bzw. keine Fehler macht. Zurückzuführen ist das natürlich auf Lilys Geisteszustand, der es ihr in komplizierteren Gedankenstrukturen nicht möglich macht, sinnvolle Entscheidungen zu treffen bzw. die Situation richtig zu bewerten, was natürlich schnell zu Fehlern jeglicher Art inklusive der Konsequenzen führen kann, man denke nur an die Szene im Wald mit den anderen Jungs aus dem Dorf, die ungehemmt die Gelegenheit bekommen, eine Frau anzufassen und schlussendlich sogar Sex mit ihr zu haben. In solchen Situationen zeigt sich, dass Lilys Freigeist nicht nur verlockende Freiheit bedeutet, sondern auch, dass Menschen und Situationen fatal falsch eingeschätzt werden. Den Gedanken, es handele sich um ein Zusammenleben wie mit einem Kind, greift die Regisseurin zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal bildlich auf, wenn die drei gezeigt werden, wie Clara und ihr Mann im Auto vorn sitzen und sich Lily auf dem Rücksitz in der Mitte befindet – damit ist die Assoziation an einen Familienausflug mit Vater, Mutter und Kind überaus geglückt.
Nichtsdestotrotz hätte der Film insgesamt ein wenig gerafft werden können. Nicht, dass nicht alles sehenswert wäre, aber bestimmte Szenen- und Inhaltsabfolgen bekommt man während der 103 Minuten gleich mehrfach geboten, obwohl man den Kern der Aussage bereits nach dem ersten Mal begriffen und für sich bewertet hat. Dadurch kommt es zwischenzeitlich zu inhaltlichen und inszenatorischen Wiederholungen, die den Film insgesamt etwas unnötig strecken und nur durch die hervorragenden Darsteller nicht langweilig wirken. Hier und da ein kleiner Eingriff und man hätte gute 15 Minuten sparen und den Film straffen können, was das Gesamtergebnis etwas weniger sperrig gemacht hätte. Mit seinem Faible für die wiederholte Darstellung bestimmter Eigenarten der Figuren macht er seine 103 Laufzeitminuten recht merklich, was dem an sich wunderbaren Filmerlebnis aber keinen Abbruch tut, sondern lediglich den Wiederansehfaktor etwas senkt.
Interessant und hervorhebenswert hingegen ist der Zusammenhang zwischen Filmtitel und Inhalt. So erlegt der Film dem Zuschauer nicht die schwere Last auf, den Film lang rumrätseln zu müssen, was es nun mit dem Titel auf sich hat. Und obwohl Nacktschnecken im Film vorkommen, gibt es keine bildliche Übersetzung des ungewöhnlichen Titels, sondern eröffnet sich bereits nach der ersten halben Stunde, indem der Zuschauer die Charaktere kennen lernt. Dabei wird dann wirklich schnell klar, dass sich der Titel auf Lilys Lebensweise bezieht und, wenn man es genau nimmt, eine konkrete Bezeichnung für eben diesen ist. Barfuß auf Nacktschnecken herumzustehen könnte genauso gut eine weitere Idee Lilys sein und so transportiert der Titel im übertragenden Sinn Lilys Lebensphilosophie und –gefühl.
Und eigentlich, soviel kann vielleicht verraten werden, nicht nur Lilys…
Im letzten Drittel erweist sich der Film dann als fast schon ein wenig kontrovers. Während Lily sich nicht reinreden lässt und ihr Leben weiterhin lebt, wie sie es für richtig hält, gibt sie Clara in einigen unerwartet intensiven und gefühlsvollen Momenten Denkanstöße zu ihrem Leben. Der normale Alltag, der Ehemann – ist das normale wirklich das, wonach Clara sucht? Sie beginnt, darüber nachzudenken und trifft infolgedessen Entscheidungen, die den unkonventionellen Charakter des Filmes ausmachen.
Das wird ohne Zweifel für viele Zuschauer befremdlich und unverständlich wirken und den Charakter der Clara ohne Frage auch seltsam und auch ein wenig unsympathisch machen. Dies tut allerdings dem Film keinen Abbruch, der ganz besonders mit seinem Ende beweist, dass er sich etwas traut. Und das ist eine Eigenschaft, die gute Dramen für sich beanspruchen sollten und man kann nur hoffen, dass französische Filme auch in Zukunft bei ihrem Mut bleiben, sich etwas zu trauen, egal in welchem Genre, denn damit bescheren sie uns ab und zu kleine, schöne und tiefgehende Filme wie diesen.