„I'd be lost without the weight of you two on my back. I ain't goin' anywhere.“
Leider bleibt die harte Wahrheit manchmal unausgesprochen, verborgen im dichten Dickicht falscher Vorspiegelungen und gleichgültiger Betrachtungsweise. Denn trauriger Fakt ist: Der
American Dream, der amerikanische Traum, wie er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nachhaltig das Bild der sich im wirtschaftlichen Aufschwung befindlichen Vereinigten Staaten geprägt hat, ist längst zur nur noch schmückenden Fassade verkommen, hinter der zwischen Schein und Sein eine merklich dünne Trennlinie verläuft. Über die wahre und wenig attraktive Realität wird derweil der Mantel des Schweigens gehüllt. Doch die Wahrheit lässt sich nicht fortdauernd blind ignorieren, vor allem nicht dann, wenn sie mittlerweile als fester Bestandteil zur US-amerikanischen Gegenwartskultur gehört.
Von einer solchen Wahrheit berichtet Independent-Filmerin
Debra Granik („Down to the Bone“ [2004]) eindrucksvoll in ihrem erst zweiten Langfilm
„WINTER'S BONE“. Dort lebt Ree Dolly (Jennifer Lawrence), 17 Jahre alt, zusammen mit ihren zwei Geschwistern und der an Depressionen leidenden Mutter auf engstem Raum in den Ozarks in Missouri. Vater Jessup, der Crystal gekocht hat, sitzt zurzeit eine Haftstrafe ab, soll jedoch, wie Ree eines Tages erfährt, gegen Kautionszahlung wieder auf freien Fuß gekommen und seitdem spurlos ver
schwunden sein. Da er vor seinem Verschwinden dem Kautionsvermittler zur Sicherheit das der Dolly-Familie gehörende Haus nebst Land gestellt hat, droht den in ärmlichen Verhältnissen Wohnenden schon bald der Verlust ihrer vier Wände, sollte Vater Jessup nicht pünktlich beim kommenden Gerichtstermin erscheinen. Ree begibt sich daher notgedrungen auf die Suche nach ihrem Vater, um die Familie zu retten, stößt dabei jedoch unerwartet in ein wahres Wespennest aus Vorurteilen, Familienehre und purer Gewalt.
Satte Farben sucht man vergeblich, alles an
„WINTER'S BONE“ ist erschreckend trostlos und erbarmungslos kühl. Fast schon kaltherzig malträtiert die Kamera den Zuschauer, indem sie Panoramen einfängt, die wie von einer anderen Welt erscheinen, obwohl sie doch nur eine ungeschönte Wahrheit bebildern. Debra Granik lässt bereits zu Anfang ihrer hervorragend gefilmten Bestandsaufnahme erkennen, dass diese kein Zuckerschlecken werden wird und überträgt eindrucksvoll das vorherrschende Gefühl der Hilflosigkeit auf jeden, der sich ihr annimmt. Genauso wie Ree und ihre Familie von aller Welt verlassen ihr tristes Dasein am untersten Rand der Armutsgrenze fristen müssen, so befindet sich auch der Rezipient dieser sperrigen, aber wirkungsvollen Bilder in einer Zwangslage. Man möchte eigentlich nur noch wegschauen, weil die Wahrheit derart realitätsnah auf einen niedergeht, die Augen verschließen ob der Eindringlichkeit. Doch dann merken wir plötzlich voller Scham, dass schon viel zu lange
genau so agiert wurde. Denn das Schicksal dieser Menschen berührt zutiefst, rüttelt auf, gibt dem Elend ein allzu markantes Gesicht, das mit flehenden Augen um unsere Aufmerksamkeit ersucht. Auch wenn es zuweilen nur wehtut.
Eines dieser flehenden Augenpaare gehört
Jennifer Lawrence („
Der Biber“ [2011]), die als Ree eine mehr als nachhallende Leistung abliefert. Deren zwei so unterschiedlichen Seelen (Kämpfernatur auf der einen, verletzliche Jugendliche auf der anderen Seite) trägt die junge Amerikanerin trotz der erdrückenden Thematik, die wie ein Gewicht auf den Schultern der Protagonisten zu lasten scheint, mit überraschender Leichtigkeit an die Oberfläche des undurchsichtigen Geschehens. Gleichzeitig verleiht sie einer wichtigen Frage Hand und Fuß: Was zählen Antworten in der hier gezeigten Welt? Geben Sie Kraft, stärken sie gar den Charakter? Die vernichtende Erkenntnis: Sie sind wenig wert, denn am besten fragt man erst gar nicht. Was zählt, ist der Mensch und seine Einstellung zum Leben. Oder anders formuliert: Stark wird, wer sich trotz aller Widrigkeiten den festen Willen bewahren konnte, stark zu sein. Denn manchmal ist ein fester Wille neben dem Geschenk des Lebens mit das Kostbarste, was einem persönlich noch geblieben ist, wenn man sich plötzlich ganz unten wiederfindet. Ausgegrenzt, auf sich allein gestellt. So wie unsere tapfere, willensstarke Ree, die merklich an den Herausforderungen reift, welche das Schicksal für sie auserkoren hat.
Fraglos:
„WINTER'S BONE“ gibt sich in jeder Hinsicht schonungslos ehrlich, verkommt in seiner pessimistisch geprägten Grundhaltung jedoch nicht vollends zum anklagenden Rundumschlag auf die amerikanische Gesellschaft. Vielmehr schwingt in Debra Graniks einnehmender Sozialkritik gegen Ende nämlich auch ein klein wenig Hoffnung mit. Auf Besserung? Darauf, dass die Bevölkerung nicht mehr die Augen verschließt? Fragen, die hier ausnahmsweise gestellt werden sollten, zunächst aber leider noch keine klare, eindeutige Beantwortung erfahren werden. Denn wie so häufig liegt es letztlich an dem einzelnen Menschen und seiner Einstellung zum Leben, zur Gesellschaft. Es obliegt ihm, Dinge zu verändern und einen Umbruch in die Wege zu leiten. Ob dies gelingt, lässt sich freilich nicht mit Bestimmtheit sagen. Wie so häufig. Und daher ist die naheliegendste Antwort wohl die, dass
„WINTER'S BONE“ im Stillen von der Hoffnung berichtet, weiterhin überhaupt hoffen zu dürfen. Und das ist durchaus beachtlich.
Fazit: Mit
„WINTER'S BONE“ liegt nicht nur ein in seinem Minimalismus unglaublich intensives und mitreißendes Filmerlebnis vor, sondern auch ein verdammt harter Knochen.