Es ist keine leichte Aufgabe, der ich mich hier stelle. David Lynch gilt bekanntlich nicht gerade als jemand, der versucht einfache Geschichten mit einfachen Plots in einfache Filme zu verpacken, und dieser filmtheoretische Gemeinplatz gilt natürlich auch für Mulholland Dr. Wenn ich jetzt also behaupte, ich hätte den Film verstanden, setze ich mich von Vornherein in die Nesseln, weil man einen Lynch-Film – außer der Straight Story – nach allgemeiner Auffassung gar nicht verstehen kann, im Imperativ: verstehen darf! Das Geheimnis des David Lynch, der sich selbst so gut wie nie zu seinen Filmen äußert und es schon gar nicht für nötig hält, sie zu erklären, ist angeblich, sich der Kunstwelt des Regisseurs auszusetzen, ohne zu erwarten, man könne sie verstehen.
Und doch behaupte ich: Ich habe diesen Film verstanden.
Mulholland Dr. beginnt mit einem Autounfall auf dem Mulholland Drive, der dem Starlet Rita (Laura Harring) zwar das Gedächtnis kostet, ihr aber das Leben vor Verfolgern rettet. Sie taucht darauf in einer Villa unter, die der jungen Schauspielerin Betty (Naomi Watts) von ihrer Tante überlassen wurde. Die blonde Betty das zuckersüße, liebenswürdig Ding vom Land, das in Hollywood Karriere machen möchte, ist auf Anhieb fasziniert von ihrem unerwarteten Gast und in ihrer naiven Art versucht sie, Rita zu ihren verlorenen Erinnerungen zurück zu helfen.
Sprung: Der junge Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux) weigert sich, ei
ne Filmrolle mit der von den Produzenten bestimmten Darstellerin Diane Selwyn zu besetzen. Er wird entlassen, seine Freundin betrügt ihn, er ist in kürzester Zeit total am Boden, und bekommt eine zweite Chance, wenn er kooperiert und Diane Selwyn doch zum Star des Films macht.
Rücksprung: Betty bereitet sich auf eine Rolle vor, brilliert beim Casting und trifft am Set schließlich Adam Kesher. Doch Betty hat Rita versprochen, sich mit ihr zu treffen, und verlässt fluchtartig das Filmset. Rita ist ein Name eingefallen, der ein Hinweis auf ihre Identität sein könnte: Diane Selwyn, der Name eben jener Schauspielerin, die in Keshers Film spielen soll.
Ab hier beginnt die bisher lineare Struktur des Films zu zerfallen. Die beiden Frauen Betty und Rita finden Dianes Adresse heraus und steigen in deren Wohnung ein, doch sie finden dort nur eine unansehnliche Gestalt – eine Leiche? – reglos auf dem Bett liegend. Zurück in der Wohnung von Bettys Tante gesteht Betty Rita, dass sie sich in sie verliebt hat, die beiden schlafen miteinander. Anschließend schneidet und färbt sich Rita die Haare blond – und sieht plötzlich aus wie Betty. Ein Varieté-Besuch berührt beide Figuren zutiefst; das Thema lautet: Alles ist Einbildung, ein Trick, Magie. Wieder zu Hause holt Rita einen geheimnisvollen, blauen Schlüssel aus einer Hutschachtel – und ist mit einem Mal allein; Betty ist fort. Rita steckt den Schlüssel in eine Zugehörige blaue Schachtel, öffnet diese, und fällt bewusstlos zu Boden. Als eine fremde Frau – vielleicht die eigentliche Besitzerin der Wohnung – ins Zimmer blickt, ist auch Rita fort.
Wieder in der Wohnung, die wir als Diane Selwyn´s kennen, erwacht die dort immer noch auf dem Bett liegende Frau: Es ist Betty – oder vielmehr eigentlich ist es Diane Selwyn (ebenfalls Naomi Watts), eine eingefallene und völlig kaputte Version der strahlenden Betty. Diane ist allein und völlig fertig, bis sie Rita – wieder mit dunklem Haar – entdeckt, die sie nun aber „Camilla“ nennt, und über deren Erscheinung sie sich maßlos freut – bis sie sich im Spiegel selbst erkennt, kaputt und desillusioniert, wie sie ist. Diane versucht sich Camilla/Rita vorzustellen, masturbiert, doch der Traum ist vorbei, die Phantasie spielt nicht mehr mit. „Es ist wegen ihm!“, klagt die aufgebrachte Betty/Diane Rita/Camilla an – und wieder Sprung:
Diane beobachtet auf dem Filmset, wie sich Adam Kesher an Camilla heran macht. Wieder ist Diane allein, dann wird sie von einer Limousine zu einer Party abgeholt. Es ist dieselbe Limo, in der Rita/Camilla am Anfang ihren Unfall hatte. Die Party ist eine einzige Demütigung für die liebeskranke Diane, bis Kesher und Camilla ansetzen, ein großes Ereignis anzukünden. Wieder Sprung.
Diane sitzt mit einem uns mittlerweile als ziemlich blöder Killer bekanntem Typen in einem Diner und beauftragt ihn, Camilla zu ermorden. Bei Beendigung des Auftrags wird sie zu Hause einen blauen Schlüssel finden. Die Kellnerin heißt Betty. Weiterer Sprung.
Zu Hause findet Diane den blauen Schlüssel, Geister verschiedener Gestalten verfolgen sie, offenbar hat der Killer seinen Auftrag ausgeführt, Camilla ist tot. Durch ihre Schuld in den Wahnsinn getrieben, nimmt sich schließlich auch Diane das Leben.
Ich will jetzt nicht darauf eingehen, wie genial und vielschichtig Lynch seine Geschichte erzählt, oder mich in Lobpreisungen des Masken-Departments ergehen, die den Figuren trotz gleichbleibender Gesichter ein völlig unterschiedliches Aussehen verleihen. Auch die Darsteller – allen voran natürlich die göttliche Naomi Watts – will ich nicht über den grünen Klee loben, wenn sie das auch durchaus verdient hätte.
Ich will lediglich darauf hinweisen, dass der Film im Grunde ganz einfach und gar nicht schwer zu verstehen ist.
Mulholland Dr. ist das Psychogramm einer unerfüllten oder vergangenen Liebe, die ihren Träger bis zur Selbstaufgabe gequält hat und ihn letztlich zugrunde richtet. Dianes krankhaftes Verlangen nach Camilla führt aufgrund der Unerfüllbarkeit ihrer Sehnsucht zu einer Persönlichkeitsspaltung, im besten Fall aber zu einer sehr plastischen Phantasiererei darüber, wie ein Zusammensein mit dem Objekt ihrer Begierde laufen könnte. Irgendwann im Laufe dieser Zeit zwischen Verlangen und Wahnsinn hat Diane wohl diesen kleinen Ganoven aufgetrieben, um ihrem Schmerz durch den Mord an Camilla ein Ende zu bereiten.
Es ist egal, ob Diane nun jemals tatsächlich mit Camilla zusammen war und schließlich fallen gelassen wurde, oder ob sie sich diese gesamte Beziehung von vorn bis hinten nur vorgestellt/eingebildet/herbeigewünscht hat, die zerstörerische Konsequenz für ihr eigenes Leben ist dieselbe. Als der Mord vollendet ist – der blaue Schlüssel liegt auf ihrem kleinen Tisch – wird ihr der Wahnsinn ihrer Tat bewusst, und die Geister ihrer (vielleicht nur eingebildeten) Vergangenheit jagen Diane schließlich in den Selbstmord.
All die kleinen seltsamen Details, die dem Zuschauer von Anfang an das Gefühl geben, dass etwas nicht stimmt, der schwarze Mann auf dem Parkplatz, der stumme Produzent im Rollstuhl, die beiden überdreht grinsenden Alten im Taxi, all das unterstreicht allein das aus dem Gleichgewicht geratene Innenleben der liebeskranken Diane.
Und dass uns diese Geschichte nicht einfach linear, sondern zuerst aus dem Blickwinkel der pathologischen Phantasiegestalt Bettys präsentiert wird, spricht natürlich wieder einmal Bände über die filmerische Meisterschaft, die David Lynchs Werken wohl immer eigen ist.
Und so habe ich ihm nun doch noch ein Lob ausgesprochen, obwohl es doch eigentlich um seinen Film ging, und nicht um den Maestro...