Kaum ein zweiter Regisseur hat sich einen derart kontroversen Ruf erarbeitet wie David Lynch. Der Amerikaner erforscht mit Vorliebe seelische Abgründe und steht insofern für "intuitives" Sehen und Erleben, dass er mit seinen Filmen direkt zum Unterbewusstsein vorzudringen versucht. Sture Rationalisten bleiben außen vor; es sei denn, sie sind bereit, sich der Herausforderung seiner kafkaesken Bilderlabyrinthe zu stellen. Dies gilt im Besonderen für "Mulholland Drive" (2001) sowie den vier Jahre zuvor gedrehten "Lost Highway": Der schizoide Psychotrip gleicht einem surrealistischen Gemälde, und kommuniziert sozusagen "zwischen den Bildern" mit dem Allerpersönlichsten eines Jeden.
Zunächst machen wir die Bekanntschaft des Jazzmusikers Fred Madison (Bill Pullman), der seine Ehefrau Renee (Patricia Arquette) verdächtigt, eine Affäre mit einem fremden Playboy zu haben. Eines Tages findet das Paar vor seiner Haustür seltsame Videobotschaften vor, die Innenaufnahmen ihrer Wohnung beinhalten. Fred wird zunehmend misstrauisch, doch seine Gattin kann sich laut eigenem Bekunden ebenso wenig erklären, von wem die Bänder stammen. Als auf einem der Videos zu sehen ist, wie Fred Renee ermordet, wird der Ahnungslose, der sich keiner Schuld bewusst ist, ins Gefängnis gesteckt und zum Tode verurteilt.
Nun aber geschieht das Unfassbare: Am nächsten Morgen, als die Wärter in der Zelle des Gefangenen nach dem Rechten sehen wollen, befindet sich nicht m
ehr der vermeintliche Mörder Fred, sondern der junge Automechaniker Pete (Balthazar Getty) darin. Der Mann kann sich an nichts erinnern, wird aber aufgrund fehlender Indizien gegen ihn freigesprochen und in die Freiheit entlassen. Draußen beginnt Pete eine folgenschwere Romanze mit der Gangsterbraut Alice (auch Patricia Arquette), die der toten Renee zum Verwechseln ähnlich sieht…
Das klingt total verrückt? Ist es auch! Doch wer Filme wie
Blue Velvet oder “Mulholland Drive” kennt, der weiß, worauf er sich hier einlässt. Regisseur Lynch, der für exquisites Kopfkino abseits von lauwarmen Mystery-Plots steht und selbst Kinomuffeln und Couchpotatoes durch seine langjährige TV-Serie “Twin Peaks” ein Begriff ist, legt seinen provokativen Stil auch in “Lost Highway” nicht ab. Nach der unangenehm unter die Haut kriechenden Anfangsphase entfesselt Lynch vom überraschenden Twist an, der nach einer guten Dreiviertelstunde Einzug hält, ein hypnotisches, morbid-erotisches Verwirrspiel, das die Automatismen des menschlichen Verstandes außer Kraft setzt und den Zuschauer auf die Probe stellt. Nicht nur, dass Lynch mit seinen meisterlich komponierten, oftmals kunstvoll ins Schwarze abgeblendeten Sequenzen und der kraftvoll-irritierenden Metaphorik (das Lynch-Element Feuer fungiert hier - etwa im Kamin und in der brennenden Holzhütte in der Wüste - als persönliches Fegefeuer Freds/Petes) eine schicksalhafte Atmosphäre schafft. Das Drehbuch (David Lynch schrieb es in Kooperation mit Barry Gifford) entwickelt sich zu einer Art Möbiusschleife, die sich in der Schlussszene im ernüchternden Selbstgespräch Fred Madisons auflöst. "Lost Highway" funktioniert indes über Stimmungen, Empfindungen, gekoppelt an verdrängte Ängste und paranoiden Wahn. Zur näheren Interpretation appelliert Lynch an das Publikum, welches Geduld und Konzentration mitbringen und sich den Streifen idealerweise auch mehrmals anschauen sollte.
Was hat es beispielsweise mit dem mysteriösen kleinen bleichen Mann (Robert Blake) auf sich, der sich offenbar an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten kann? Viel ist über diese Figur spekuliert worden. Ist dieser Mann Freds bzw. Petes zweites Ich? Ist er eine halluzinierte Geistergestalt, die nur in seinem Kopf existiert? Handelt es sich möglicherweise um den Leibhaftigen in Person - Mephisto - der dem mit sich und seinem Leben unzufriedenen Fred eine Art faustischen Pakt vorschlägt und ihm nach dem Mord an seiner Frau eine zweite Chance gibt, sein Leben in den Griff zu kriegen? In diesem alternativen Dasein wird Pete nicht von seiner Frau betrogen, sondern das weibliche Geschlecht liegt ihm geradezu zu Füßen. Alice ist der verführerische Lockvogel, doch die diabolische Vorsehung will es, dass Fred/Pete auch diese auf das unmoralische Angebot des Mephisto folgende zweite Chance verspielt und brutal auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Zum Effekt des Films steuern auch die musikalischen Elemente Maßgebliches bei. Am sonderbarsten wirkt wohl die Entscheidung, für den Soundtrack die deutsche Hardrock-Band Rammstein zu verwenden. Doch letztendlich muss man Lynch in Anbetracht des Gesamtbildes bescheinigen, die richtige Wahl getroffen zu haben. Sein Gespür für außergewöhnliche und wirkungsvolle Musikuntermalung ist verblüffend. So auch im Falle des US-Bürgerschrecks und Schockrockers Marilyn Manson, der mit seinen heftig donnernden Klanggewittern “I put a spell on you” und “Apple of Sodom” nicht nur seinen musikalischen Senf zum Film gibt, sondern auch selbst in einer winzigen Nebenrolle als (Porno-)Darsteller zu sehen ist. Man muss aber schon genau hinschauen, um den werten Mr. Brian Warner (so der bürgerliche Name Mansons) zu erkennen. Auf dramaturgischer Seite streut Lynch unterdessen wieder eine Reihe subtiler Hinweise aus, deren Bedeutung eine nicht unwesentliche Rolle bei der Entschlüsselung des Rätsels spielen dürfte.
Wie in seinem späteren Meisterwerk
Mulholland Drive - Straße der Finsternis operiert David Lynch in “Lost Highway” mit multiplen Persönlichkeiten und besetzt Doppelrollen. Betreffenden Part übernimmt hier Patricia Arquette, die sowohl Renee als auch Alice mimt. Dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelt, ist dabei lediglich auf dem Papier klar. Denn Renee ist brünett und eine Musikergattin, während Alice blond ist und die Geliebte eines gefährlichen Gangsters. Die minimalen, aber dennoch ausschlaggebenden äußerlichen Unterschiede verleihen beiden Frauen völlig verschiedene Ausstrahlungen. Als Alice wirkt Arquette sogar ein bisschen wie ihr Callgirl Alabama aus Tony Scotts “True Romance”- und das nicht nur deshalb, weil sich sich des Öfteren sehr freizügig gibt. Schauspielerisch läuft diese Doppelrolle jedenfalls auf hohem Niveau ab. Der offensichtlich unter Verfolgungswahn leidende Hauptcharakter wird abwechselnd von Bill Pullman und Balthazar Getty gespielt, die in ihren getrennten Szenen jeweils brillieren. Ein Wiedersehen gibt es auch mit Robert Loggia, dem Drogenbaron aus Brian de Palmas
Scarface, der hier erneut einen skrupellosen und sadistischen Mafioso spielt.
Um “Lost Highway” gänzlich ohne Vorbehalte genießen zu können, sollte man schon ein Verständnis für experimentelle Filmkunst vorzuweisen haben. Denn David Lynchs paranoider Wahnsinns-Ritt jenseits aller Vorstellungskraft ist durchaus gewöhnungsbedürftig und ein klarer Fall von
hate it or love it. Zeigt man sich aber offen für solche extremen Spielchen und setzt sich dem verwirrenden Bildersturm aus, wird man augenblicklich in einen Strudel aus verstörender Faszination hinabgezogen, der einen nicht mehr loslässt. Und auch wenn das unablässige Nörgeln von Lynchs erklärten Kritikern noch so laut ertönt, wäre alles andere als die Höchstwertung für diese filmische Schocktherapie an dieser Stelle einfach zu wenig…