von Asokan Nirmalarajah
Sieben (1995), das zweite Leinwandwerk des Musikvideo- und Werbefilm-Regisseurs David Fincher nach seinem ebenso ambitionierten wie verfehlten Debüt
Alien³ (1992), führt die aussichtslose, nihilistische Endzeitstimmung des Science-Fiction-Horrorfilms fort, verortet sie aber im hier und heute einer unspezifizierten amerikanischen Großstadt, die derart verdorben und moralisch fragwürdig ist, dass es eines selbsternannten
God’s only man bedarf, um den urbanen Sündenpfuhl durch erbarmungslose Gewalt zu reformieren. In Martin Scorseses
Taxi Driver (1976) war dieser geistig verwirrte Erlöser noch ein naiver, frommer Mann namens Travis Bickle (Robert De Niro). In Finchers Film ist es ein scheinbar allgewaltiger Serienkiller, der nicht nur seine polizeilichen Verfolger auf Trab hält, sondern auch die Zuschauer an der Nase herum führt, ohne je dabei die Kontrolle über seinen perfide durchdachten Plan und damit den narrativen Entwicklungen seiner perfekt ersonnenen Geschichte zu verlieren. So entpuppt sich die bewährte Form des
whodunit-Krimis, in der der Zuschauer mit dem Protagonisten den Verbrecher schrittweise aufspürt und stellt, hier als trügerische Konvention, mit der das Ende von
Sieben famos und verstörend bricht.
Ähnlich dem
Alien-Monster, das in Finchers Erstling als Virus-artiger Killer auftreten mag, aber letztlich eine reine Männergesellschaft von der Alterität einer Frau befreit, bestrebt auch dieser bis zum Finale mysteriöse Massenmörder in Menschengestalt die Säuberung und Revitalisierung einer so ernüchternd amoralischen und erschreckend apathischen Gesellschaft, dass selbst der vermeintliche Held des Films, der altersmüde Detective Lt. William Somerset (Morgan Freeman) aus der grausigen Stadt in seinen Ruhestand fliehen möchte. Während der graue Veteran die zynische, düstere Weltsicht des Mörders teilt, hat sein neuer Ersatz Det. David Mills (Brad Pitt) noch den Anspruch, die Welt von Abschaum aller Art säubern zu wollen. Denn der impulsive Mills hat in der schönen Tracy (Gwyneth Paltrow) im Gegensatz eine Ehefrau, für deren Schutz es sich noch zu kämpfen lohnt.
Anfangs irritiert ob der kunstvoll platzierten Leichen, wird Somerset schnell bewusst, dass der abgefeimte, pseudo-religiöse Feldzug des psychopathischen Killers den sieben Todsünden des altertümlichen Katholizismus folgt, indem für jedes Laster je ein Opfer exemplarisch gerichtet wird. Die angeblich göttliche Mission des größenwahnsinnigen Killers ist sogar derart penibel vorbereitet und in dem Zeitraum der ersten Dienstwoche des unerfahrenen Mills durchgeführt, dass die zwei gänzlich komplementären Polizisten kaum mehr tun können, als von Tag zu Tag über einen weiteren „Sünder“ zu stolpern, dessen oder deren Vergehen Hochmut, Zorn, Stolz, Trägheit, Wollust, Habgier oder Maßlosigkeit war. So sind unsere Identifikationsfiguren Mills und Sommerset, die über die Wärme von Tracy als Partner zueinander finden, in einer ebenso passiven Position wie wir als Zuschauer, und müssen durch ein anonymes, klaustrophobisches Moloch einer nahezu stets verregneten und dunklen Großstadt waten, ohne jede Hoffnung auf Erfolg. Bis sich der Mörder plötzlich zu erkennen gibt und damit das grausige Ende einleitet, in dem die intellektuell gleichwertigen Gegner Somerset und John Doe (Kevin Spacey) einen geistigen Streit fortführen, in dem Tracys Gefühl und Davids physische Kraft irrelevant sind.
Das in
Sieben auf Zelluloid gebannte Neo-noir-Bild einer urbanen Hölle ist wie so oft bei Fincher auch als Alptraum lesbar, den hier Somerset haben mag, nachdem er dem naiven Mills zu Anfang des Films begegnet ist. Besorgt über dessen Unerfahrenheit, geht er abends zu Bett. Darauf folgt die virtuose, nunmehr legendäre Titel-Sequenz des Films, in der wir in Fragmenten den gesichtslosen Mörder bei seiner Arbeit sehen, und der den vermeintlichen Angsttraum einleitet, den Somerset für den Rest der Laufzeit hat. Hier ist auch die Stelle, an der der Serienmörder die Kontrolle über die filmische und narrative Ebenen übernimmt, da die beängstigenden Bilder seine düstere Weltsicht widerspiegeln.
Wie auch andere Filme Finchers (
The Game, 1997,
Fight Club, 1999), wurde auch
Sieben im Jahr seines Kinodebüts sträflich ignoriert und erlangte Kult- und Klassikerstatus als atmosphärisch dichtes, superb konzipiertes
neo noir-Meisterwerk des Kriminalgenres erst in den darauf folgenden Jahren. Dabei stimmt an diesem Genre-Meilenstein schlichtweg alles. Großartig bestückt mit dem imponierend subtilen Morgan Freeman in einer seiner erinnerungswürdigsten Leinwandrollen, dem damals schon wagemutigen Brad Pitt, der mit seiner Schlüsselszene im schockierenden Finale alle Vorwürfe, er sei ein untalentierter Schönling, von sich abwarf, der damals noch relativ unbekannten Gwyneth Paltrow und dem beängstigend guten Charakterkopf Kevin Spacey, können in dieser Besetzung sogar ausdrucksstarke Fressen wie die von R. Lee Ermey als grimmiger Polizeichef und Richard Schiff als schmieriger Anwalt in kleinen Rollen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das Skript ist superb und wagemutig, wenn auch - einer Hollywood-Produktion gerecht - an manchen Stellen nicht immer ganz logisch bzw. zu konstruiert. Doch die atemberaubende, stilbildende Kameraarbeit von Darius Khondji und der Oscar-nominierte Schnitt von Richard Francis-Bruce, sowie natürlich Finchers kluges Gespür für Spannung, Charakter und Atmosphäre gleichen das mehr als aus. Einer der besten Filme der 90er Jahre, den man, wie Fincher dereinst prophezeite, nun als den Film kennt, der mutig genug war, das ursprüngliche
head-in-a-box-Finale des Skripts beizubehalten. Mutig und sehr, sehr böse.