Anna Manni besucht in Florenz das Museum der berühmten Uffizien. Schon nach kurzer Zeit bricht sie unter dem Eindruck der Kunstwerke zusammen und verliert sowohl Bewusstsein als auch Gedächtnis. Nach ihrem Erwachen wird klar: sie leidet unter dem Stendhal-Syndrom. Außerdem war sie als Polizistin einem Serienmörder und -vergewaltiger auf der Spur, den sie tatsächlich in den Uffizien traf. Dieser entführt und vergewaltigt Anna nach kurzer Zeit. Sie kann zwar flüchten und den Killer scheinbar töten, doch ihr Leben ist für immer verändert...
Nachdem
Trauma alles andere als ein kommerzieller Erfolg war, entschloss sich Dario Argento für seinen nächsten Film nach Italien zurückzukehren:
„I also got tired of being told by American casting directors that no American actress would play the 'Woman in Peril' scenes as written. Well, fuck the lot of them! America can screw itself. Italy is where I belong, where my fans want me to be and where I'm staying.“. Vorher musste jedoch ein neues Projekt für den Regisseur in der Krise gefunden werden: Argento brauchte nicht nur Erfolg, sondern vor allem auch Geld. Mehrere Projekte wurden in Erwägung gezogen, die interessantesten darunter sicherlich ein Remake des eigenen
The Bird with the crystal plumage, ein teurer Italo-Western (und das Mitte der 90er!) sowie eine TV-Serie
namens „Dario Argento: Sei delitti, sei città“ mit Argento als Produzent, während andere Regisseure wie Michele Soavi und Luigi Cozzi Drehbücher und Regie übernehmen würden. Am interessantesten und fortgeschrittensten war eine Neuverfilmung des Klassikers Der Golem, aber Lamberto Bava, der Regie führen sollte, konzentrierte sich lieber auf Prinzessin Fantaghiro. Als es finanziell für Argento immer enger wurde, stieß er schließlich auf einen Artikel darüber, dass im Krankenhaus von Florenz immer drei leere Betten stehen – zur Behandlung des sogenannten Stendhal-Syndromes. Das Thema war gefunden, und nach weiterer Recherche schrieb Argento zusammen mit Franco Ferrini letztendlich ein Drehbuch. Am 17. Juli 1995 begannen die Dreharbeiten, die knapp neun Wochen dauern sollten.
Bei The Stendhal Syndrome betritt Argento wieder Neuland im technischen Sinne: Stendhal Syndrome ist tatsächlich die erste italienische Produktion, die CGIs benutzt. Neben einem Gore-Highlight sowie diversen kleineren Einsätzen bei den Gemälden in der Kunstgallerien sticht natürlich besonders eine Szene heraus: wir folgen ein paar Pillen, die geschluckt werden und im Magen landen. Warum macht Argento sowas? Weil er es kann. Nur dumm, dass die italienischen CGI-Künstler leider noch nicht die nötige Kompetenz besitzen, um solche Szenen technisch überzeugend umsetzen zu können. Hierbei danke ich meiner fürchterlichen DVD, die diese Szene mit ihrer „Bildqualität“ dann doch etwas kaschiert. Dazu aber später noch mehr. Argento arbeitete auch zum zweiten Mal mit seiner Tochter Asia zusammen. Fabio deFalco, Autor von GIALLO – DIE FARBE DES TODES, erwähnt hier kurz, dass die Besetzung der eigenen Tochter in einer derartigen Rolle bestimmte Rückschlüsse auf die Psyche des Vaters bzw. Regisseurs zulasse. Dieser Ansatz erscheint mir aber äußerst spekulativ, da weder Asia die erste Wahl für die Rolle war, noch ihr der Charakter somit auf den Leib geschrieben wurde. Eigentlich sollten Bridget Fonda und dann Jennifer Jason Leigh gecastet werden, die Wahl fiel aber letztendlich auf Asia Argento.
Dabei überrascht Stendhal-Syndrome mit einer Menge behandelter Themen. Nicht nur, dass Argento hier viele der eigenen Motive wieder aufgreift, auch versucht er eine höhere psychologische Tiefe zu erreichen, als in seinen bisherigen Filmen. Vorherrschendes Thema ist natürlich die Verwandlung von Mann zu Frau, was einerseits optisch dargestellt wird, andererseits aber auch in der Psyche und im Verhalten Annas zum Vorschein kommt. In diesem Kontext lohnt es sich natürlich auch, auf die Motive Penetration und -angst zu achten, die in einer Fast-Vergewaltigung eines Mannes eben durch unsere Hauptdarstellerin ihren Höhepunkt finden. Am interessantesten ist die Variation von dem ureigenen Thema des Regisseurs, das Gewaltereignis in der Vergangenheit mit seinen gegenwärtigen Auswirkungen. Der Mechanismus hier erinnert frappierend an die Experimente des Psychiaters Donald Ewen Cameron. Dieser wollte bei seinen „Patienten“ (d.h. Opfern) durch Reizentzug und extreme Stimulation eine psychische tabula rasa schaffen, sprich, die Persönlichkeit auslöschen und gezielt eine neue aufbauen. Letzteres gelang ihm zum Leidwesen seiner Patienten nicht. Argento verfährt mit seiner Hauptdarstellerin ähnlich: durch die Entführung, durch die Vergewaltigung, den anschließenden Terror und die erneute Entführung in Verbindung mit dem Gedächtnisverlustes durch das Stendhal-Syndrom vernichtet er seine Filmfigur, um dann zu erörtern, ob und welche neue Persönlichkeit aufgebaut wird. Somit kann man festhalten, dass der Film auf jeden Fall thematisch eines der reifesten Werke in Argentos Filmographie ist.
Stendhal-Syndrome besitzt natürlich etliche Stärken, auch wenn dieser Film häufig nur als Randnotiz in Listen auftaucht. Zum einen wäre da natürlich der Soundtrack.: nach über 20 Jahren arbeitete Argento erneut mit dem Meister Ennio Morricone himself zusammen. Dieser schrieb wieder einen fantastischen Score, der im Ohr bleibt und angenehm creepy ist. Aber auch inszenatorisch beweist Argento hier erneut vielerorts seine Stärken. Einige Überblendungen, wenn Anna in Bilder steigt, sind sehr gelungen (ganz im Gegensatz zu den oben erwähnten CGIs), und die erste halbe Stunde ist vielleicht das beste, was Argento seit
Opera ablieferte. Mysteriös, fesselnd, gewalttätig und im besten Sinne fantasievoll inszeniert; grandios die Szene, als der Killer einem Opfer durch beide Backen schießt. Auf der Tonspur wird die Intensität dieser Szenen durch grauenhaftes Geschrei unterstützt, und sowohl Thomas Kretschmann als auch Asia Argento gehen in ihren Szenen komplett aus sich raus. Kretschmann wirkt ungemein psychopathisch, und wenn er in seinem Mund mit einer Rasierklinge „jongliert“, dann weiß man: arme Anna, die Szene wird böse. Argento bewegt sich in diesen Terrorszenen natürlich auf seinem Terrain, Gott sei dank ohne der Versuchung zu verfallen, seine größte Stärke auszuleben und die Gewaltspitzen zu ästhetisieren. Von daher scheint Stendhal-Syndrome nach einhelliger Meinung von Macher und Fans sein bisher brutalster Film zu sein, wobei er sich bemerkenswerterweise beim eigentlichen Gore relativ zurückhält.
Allerdings ist wie immer in den 90ern und danach nicht alles eitel Sonnenschein im Argento-Filmland. Stendhal-Syndrome hat nämlich auch mit einigen Problemen zu kämpfen, die ihm dann doch die 5 Sterne Marke kosten. Wie fast immer kann man hier die Schuld beim Meister selbst suchen: das Drehbuch, das Argento und Franco Ferrini verfasst haben, ist der größte Haken an der Sache Denn mal ganz ehrlich: das eigentlich interessante und vor allem titelgebende Stendhal Syndrom läuft nach kurzer Zeit völlig ins Leere und hat dann für den Film praktisch auch keine Bedeutung mehr. Ebenso zerfällt die Narration nach circa einer Stunde leider völlig, was umso fataler ist, als das der Film es immerhin fast auf zwei Stunden bringt. Alan Jones, der Autor des Standardwerkes PROFONDO ARGENTO, unterstellte Dario Absicht, um in der Narration die gebrochene Psyche von Anna Manni wiederzuspiegeln. Ein interessanter Ansatz, den Argento aber verneinte (hier hätte er eigentlich leicht die Kurve kriegen können, hihi). Argento und Ferrini fallen nach einer Stunde Laufzeit irgendwie nicht mehr viel ein, um den Film zu füllen, so dass der Streifen zunehmend „schlechter“ wird, was gerade bei der enorm guten ersten halben Stunde sehr schade ist. Letztenendes ist dann auch die überraschende Auflösung eben wenig überraschend, da die roten Heringe einfach zu rot sind, um auch nur länger als wenige Minuten in Betracht gezogen zu werden. Eine stärkeres Script wäre hier wie fast immer bei Argento wünschenswert gewesen. Anzumerken sei noch, dass der Film mit dem gleichnamigen und creditierten Buch von Graziella Margherini wohl nur den Titel und sonst gar nichts gemein hat.
Wie gesagt schrieb endlich wieder Ennio Morricone die Musik für diesen Film. Für die Fotografie sorgte diesmal – in seinem vorletzten Film – Giuseppe Rotunno, vorher einer der Stammkameramänner von Frederico Fellini. Der deutsche Thomas Kretschmann, der inzwischen in Nebenrollen wie in
King Kong von Peter Jackson durchaus den Sprung nach Hollywood geschafft hat, wurde wohl auf Empfehlung seiner Tochter von Dario gecastet. Kretschmann und Asia Argento kannten sich nämlich seit 1994 vom Dreh von Die Bartholomäusnacht. Paolo Bonacelli, der hier den behandelnden Psychiater spielt wurde im Jahre 2000 von Asia Argento in ihrem Regiedebut Scarlet Diva besetzt. Zuvor spielte er auch in Skandalstreifen wie Caligula oder Die 120 Tage von Sodom.
Auf DVD ist der Film inzwischen in zahlreichen Ländern erschienen – inzwischen. Die zu dieser Kritik vorliegende DVD ist allerdings eine alte und schon damals sehr günstige Scheibe aus Holland von DFW. Die Screenshotqualität bitte ich daher zu entschuldigen, diese werden ersetzt, wenn ich mir endlich mal eine vernünftigere DVD des Filmes zugelegt habe (Spenden erwünscht). Das Bild ist offensichtlich unteres VHS-Niveau, der Ton geht dafür ganz in Ordnung. Größer Pluspunkt ist dann aber sicherlich die auf der Scheibe enthaltene Dokumentation „Dario Argento's World of Horror“ mit immerhin 70 Minuten Laufzeit und unter der Regie von keinem geringeren als Michele Soavi.
Fazit: Alles in allem habe ich mit The Stendhal Syndrome durchaus meine Schwierigkeiten. Die erste halbe Stunde ist wirklich brillant inszeniertes und sehr brutales Thrillerkino, ungewöhnlich tiefenpsychologisch für Argento. Überhaupt besitzt der Film viele interessante Themen, die teilweise durchaus gut herausgearbeitet werden. Allerdings versagt das Drehbuch nach ca. einer Stunde völlig, so dass der eigentlich gute Eindruck geschmälert wird. Trotzdem einer der besseren Argentos der 90er.