Lust auf ein Stück Geschichte? Chinesische Geschichte? Während des Vollzugs der Kulturrevolution wurden in den 1970er Jahren 20 Mio. Chinesen zur Umerziehung aufs Land geschickt. Dabei sollte ihnen Bildung und Intellekt ausgetrieben werden, um Mao Zedongs Ideologie einer klassenlosen Gesellschaft durchzudrücken. Der Roman “Balzac und die kleine chinesische Schneiderin” – vor der Verfilmung bereits ein Bestseller – ist in die Zeit der Kulturrevolution eingebettet, ein autobiographischer Zug des Autors Dai Sijie (
"Die Töchter des chinesischen Gärtners").
Rückblick 1971: Die beiden Städter Luo Ming (Chen Kun) und Ma Jianling (Liu Ye) landen im Zuge der Umerziehung in den chinesischen Bergen. Hier ist Arbeit auf den Feldern oder im Bergwerk angesagt. Bücher - und insbesondere westliche Literatur - sind streng verboten. Im Nachbarsort lebt das hübscheste Mädchen der Gegend: die Enkelin des Schneiders (Zhou Xun). Sie ist intelligent und wissbegierig, verfügt jedoch über keinerlei Bildung. Beide Jungen verlieben sich in die kleine Schneiderin, doch Ma lässt Luo den Vortritt.
Das Leben hier ist einfach und bald fangen die Jungen an, ihre Bücher zu vermissen. Brillenträger Vierauge, auch ein zur Umerziehung gesandter Städter, hat zwar westliche Romane im Koffer, streitet dies jedoch ab. Die kleine Schneiderin schlägt deshalb vor, die Bücher zu stehlen. Von nun an liest ihr Luo regelmäßig vor – besonders Balzac hat es ihr angetan. Luos Ziel ist es, ihr Lesen und Schreiben beizubringen und aus ihr ein gebildetes Mädchen zu machen. Selbst der alte Schneider, der anfangs Angst vor der spürbaren Veränderung seiner Enkelin hatte, wird durch die Geschichte des Graf von Monte Christo in seiner kreativen Arbeit inspiriert.
Luo wird für zwei Monate beurlaubt, damit er seinen kranken Vater besuchen kann. Er beauftragt seinen Freund, sich um seine kleine Schneiderin zu kümmern, damit sie sich nicht mit anderen Jungen treffen wird. Der treue Ma erfüllt diesen Wunsch und besucht die kleine Schneiderin häufig, um ihr vorzulesen. Er erfährt, dass sie von Luo schwanger ist. Nur Verheiratete dürfen abtreiben, heiraten dürften sie jedoch erst mit 25 Jahren. Da Luo bei seiner Rückkehr der Tod drohen würde und auch die kleine Schneiderin selbst in Gefahr schwebt, vertraut sich Ma einem Arzt in der Stadt an. Die kleine Schneiderin hält während des Eingriffs tapfer durch, doch hinterlässt er tiefe Spuren. Aus Dank und Pflichtgefühl verkauft Ma dem Arzt seine geliebte Geige. Das bisschen Geld gibt er der kleinen Schneiderin. Luo kehrt ins Dorf zurück und alles verläuft wieder in gewohnten Bahnen.
Der Film blendet an dieser Stelle einige Minuten der Gegenwart ein. Laut Sijie aus aktuellem Anlass: der im Bau befindliche Stausee des Yangtse wird in kürzester Zeit die Region, in der Ma und Luo zur Umerziehung lebten, überschwemmen. Um letzte Erinnerungen auf Video festhalten zu können, fliegt Ma, der seit 20 Jahren in Frankreich als Violinist arbeitet, zurück. Seine Suche nach der kleinen Schneiderin ist vergebens. Ma besucht auch Luo, der inzwischen ein berühmter Professor ist, und beide schwelgen beim Videogucken in alten Zeiten.
Doch was ist aus der kleinen Schneiderin geworden? Da für Dai Sijie nicht die Liebesgeschichte im Vordergrund steht, hat er sich gegen ein Happy End entschieden. Vielleicht ist das auch gut so, denn die kleine Schneiderin hat auf ihre Weise zum Glück gefunden: Eines Tages während der Umerziehung kommt der alte Schneider zu Ma und Luo gelaufen und berichtet, dass seine Enkelin in die Stadt aufgebrochen sei, um dort ein neues Leben zu beginnen. Gekränkt holen die beiden Freunde sie ein und versuchen, mit ihr zu sprechen. Doch keiner kann sie aufhalten. Keiner weiß, was je aus ihr geworden ist.
Dai Sijie wurde 1954 in China, in der Provinz Fujian, geboren und emigrierte 1984 nach Frankreich. Die französische Filmproduzentin Lise Fayolle trat auf ihn zu und wollte seinen Bestseller-Roman unbedingt verfilmen. Über Monate hinweg wurde mit den chinesischen Behörden über die erforderlichen Drehgenehmigungen verhandelt. Die Filmzensur in China wollte keinen Film dulden, in dem u.a. die positiven Veränderungen eines Menschen durch westliche Literatur dargestellt würden. Letztendlich wurde durchgesetzt, in China zu drehen. Der fertige Film steht dort jedoch auf dem Index.
Der schwierige und lang andauernde Prozess zur Einholung der Drehgenehmigungen hat sich ausgezahlt. Der Film “Balzac und die kleine chinesische Schneiderin” zeichnet sich zu einem Großteil durch seine sehenswerten Aufnahmen in Chinas Bergen aus. Die Bilder zeigen einerseits eine Idylle mit Gebirgssee und der Weite und Ruhe der Natur. Und andererseits die Härte des einfachen Lebens mit schwerer körperlicher Arbeit. Auch Kostüm und Ausstattung wirken authentisch, so dass der Zuschauer sofort in diese fernöstliche Welt versetzt wird.
Die chinesischen Jungdarsteller sind äußerst sympathisch und attraktiv. Sie spielen sensibel und unaufgesetzt. Hoffentlich finden ihre weiteren Filme auch zukünftig den Weg ins westliche Kino.
Die Geschichte “Balzac und die kleine chinesische Schneiderin” spielt vor dem Hintergrund der chinesischen Kulturrevolution. Die Hauptaussage ist jedoch zeitlos: Es geht um die Erkenntnis, dass Literatur das eigene Leben verändert, wenn man sich auf dieses Wagnis einlässt.
Info zur DVD: Specials in Form von Making-Of und sehr interessanten und aufschlussreichen Interviews mit Regisseur, Produzentin, Kameramann und Darstellern