Clint Eastwood ist eine Leinwandlegende. Wer das anzweifelt, hat einfach keine Ahnung.
Neben seiner Arbeit als Schauspieler in Meisterwerken wie „
Für eine Handvoll Dollar“ (1964) oder „Dirty Harry“ (1971) hat das Urgestein seit 1971 außerdem bei mehr als 20 Spielfilmen Regie geführt.
Vor allem seine in dieser Dekade entstandenen Filme zählen neben der zynischen Western-Ballade „
Erbarmungslos“ (1992), für die er 1993 mit dem Oscar als „Bester Regisseur“ ausgezeichnet worden ist, zu den besten Arbeiten des inzwischen 79-Jährigen. So zum Beispiel das stille Boxer-Drama „Million Dollar Baby“ (2004) und der tiefgründige Thriller „Mystic River“ (2003), die von der Academy ebenfalls hoch gehandelt worden sind.
Dabei ist es erstaunlich, in wie kurzer Zeit der Regisseur mehrere Werke mit epischer Länge und enormer Detailbesessenheit fertigstellen kann, ohne dass dies einen Einfluss auf die Qualität von einem der Filme hätte.
Auch 2009 hat Clint Eastwood es sich nicht nehmen lassen, gleich mit zwei neuen Titeln bei diversen Preisverleihungen aufzuwarten – zum einen mit „Gran Torino“, in welchem der Meister auch als Hauptdarsteller vor der Kamera zu sehen ist, und zum
anderen mit dem packenden Drama „Der fremde Sohn“, das hier jetzt besprochen werden soll.
Eastwood erzählt darin die Geschichte der alleinerziehenden Mutter Christine Collins (Angelina Jolie), die Anfang der Zwanziger Jahre bei einer Telefongesellschaft in Los Angeles den Unterhalt für sich und ihren Sohn Walter (Gattlin Griffith) verdient. Da sie auch oft für andere Mitarbeiter einspringen muss, bleibt ihr kaum Freizeit, um mit ihrem Jungen auch mal etwas zu unternehmen.
Eines Morgens wird sie wieder gebeten, spontan eine Kollegin zu ersetzen, und vertröstet Walter mit dem versprochenen Kinobesuch auf den nächsten Tag. Diese Entscheidung wird die Mutter auf bitterste Weise bereuen, denn als sie am Abend zurückkehrt, ist ihr Sohn spurlos verschwunden.
Von der Polizei erfährt Christine kurz darauf, dass eine Vermissten-Anzeige erst nach 24 Stunden aufgenommen werden kann. Während die Frau mit ihren Nerven völlig am Ende ist, drehen sich die Mühlen bei der Institution so langsam, dass es bald den Anschein hat, dass diese sich überhaupt nicht um den Fall kümmert.
Wer sich aber mit Leib und Seele der Situation Christines verschrieben hat, ist der Priester Gustav Briegleb (John Malkovich), der in der Stadt außerdem eine Radiosendung unterhält und sich dort bereits mehrfach gegen das korrupte Treiben der L.A.-Police aufgelehnt hat.
Als die Mutter innerlich die Hoffnung schon aufgegeben hat, bekommt sie Besuch von der Polizei: Man habe Walter in Illinois gefunden und es gehe ihm gut.
Doch nachdem der von der Behörde als ihr Sohn identifizierte Junge (Devon Conti) am Bahnhof eingetroffen ist, erkennt Christine im Blitzgewitter der Presse, dass man ihr ein falsches Kind gebracht hat.
Obwohl sie sich ihrer Gefühle eigentlich sicher ist, lässt sie sich von dem Polizei-Captain Jones (Jeffrey Donovan) einreden, dass es durch die vergangene emotionale Belastung ganz normal sei, dass sie ihr eigenes Fleisch und Blut nicht auf Anhieb erkenne. Also nimmt sie, noch immer von der vorangegangenen Erleichterung überwältigt, den Jungen, der sie ebenfalls als seine Mutter ansieht, erst einmal zu sich mit nach Hause.
Dort zweifelt sie allerdings von Tag zu Tag mehr an dem angeblichen Walter und erkennt, dass ihr nicht ihre Psyche, sondern die Polizei einen Streich spielt.
Mit Hilfe von Briegleb stemmt sich die Frau gegen die ständig neuen Ausreden der Polizei und sammelt von Ärzten und Lehrern Aussagen ein, warum das Kind unmöglich der echte Walter sein kann.
Als Christine mit diesen Beweisen an Captain Jones herantritt, passiert etwas Ungeheuerliches:
Der Polizist lässt sie kurzerhand als Notfall in eine psychiatrische Anstalt einweisen, damit der peinliche Fall in der Öffentlichkeit nicht noch mehr Staub aufwirbelt.
Während die Mutter auch in der Gefangenschaft noch für ihren Sohn kämpft, ruft draußen der Junge Sanford Clark (Eddie Alderson) den Polizisten Lester Ybarra (Michael Kelly), der diesen zur Ausweisung nach Kanada von einer heruntergekommenen Farm abgeholt hat, zu sich – und erzählt ihm eine unglaubliche, grausige Geschichte…
Das Schockierendste an Eastwoods neuester Regie-Arbeit ist rückblickend die Vorab-Information, dass es sich die Story von „Der fremde Sohn“ auf einen wahren Vorfall stützt. Man will und kann einfach nicht glauben, dass sich so etwas Niederschmetterndes tatsächlich in der Realität zugetragen haben soll. Vor allem der beklemmendste Abschnitt des Films, in welchem Christine in die Psychiatrie eingewiesen wird, weil sie sich aktiv für die Suche nach ihrem Sohn eingesetzt hat, setzt sich nach dem Abspann noch eine Weile in den Köpfen der Zuschauer fest. Was ist das bloß für ein gesellschaftliches System, in dem man lästige Menschen einfach vom Erdboden verschwinden lassen kann…? Unfassbar.
Einen großen Anteil seines Gelingens verdankt das Werk natürlich der mitreißenden, absolut glaubwürdigen Darstellung der Mutter Christine Collins durch die Oscar-Preisträgerin Angelina Jolie („Durchgeknallt“). Auch wenn die Schauspielerin in den vergangenen Jahren in vielen abgrundtief schlechten Produktionen („Nur noch 60 Sekunden“, „Tomb Raider“, „
Wanted“) zu sehen gewesen ist, beweist sie hier, dass sie auch einer komplexen Figur in einem anspruchsvollen Film noch immer auf eindrucksvolle Weise Leben einhauchen kann.
Abgesehen davon, dass „Der fremde Sohn“ von vorne bis hinten mit großartigen Darstellerleistungen glänzen kann, muss unbedingt noch John Malkovich („
Being John Malkovich“, „
Burn After Reading“) als aufopferungsvoller und kämpferischer Priester genannt werden – leider hat die Academy hier nur seine Filmpartnerin Jolie für eine Trophäe nominiert, obwohl der Mime diese Ehrung ebenso verdient hätte.
Eindrucksvoll ist bei dem Film auch, wie Clint Eastwood es zusammen mit seinen Ausstattern schafft, das Los Angeles der Zwanziger authentisch auf die große Leinwand zu transportieren. Optisch erinnert das Werk dabei stark an Roman Polanskis Meisterstück „
Chinatown“ (1974), dessen Handlung etwa 10 Jahre nach der von „Der fremde Sohn“ angesiedelt ist.
Aber auch die farbmäßig gekonnt angepassten Aufnahmen von Eastwoods favorisiertem Kameramann Tom Stern sind für diese Zeitreise unverzichtbar.
Die Stimmung des Films lässt sich am besten mit den Begriffen
erschütternd und
melancholisch umschreiben, auch wenn der Regisseur am Ende einen letzten Tropfen Hoffnung bei Christine lässt. Manche Zuschauer werden den Schluss eventuell als unnötiges Anhängsel bezeichnen, doch in Wirklichkeit offenbart sich erst da die ganze Bitterkeit der Geschichte, für die dieses absolute Minimum an Trost zumindest einen schwachen Lichtstrahl bedeutet.
Überraschen tut Eastwood einige Leute bestimmt mit einigen sehr drastischen Szenen, welche schon fast an Bill Paxtons Horrorschocker „
Dämonisch“ (2001) erinnern, und die „schwere Kost“-Warnung von „Der fremde Sohn“ noch verstärken.
Denn keine Frage: Dieses Werk ist ein extrem unangenehmer Brocken, kein nettes Filmchen für Zwischendurch!
Zumindest den Rezensenten hat die Hollywood-Legende hiermit aber vollkommen überzeugt, so dass das subjektive Urteil folgendermaßen lautet:
Dies ist Clint Eastwoods bisher beste, spannendste und brisanteste Regiearbeit – wenn es zusammen mit „Gran Torino“ gleichzeitig seine letzte wäre (was durch den angekündigten „The Human Factor“ widerlegt wird), würde es ein Ausstieg auf dem kreativen Höhepunkt sein.