Ein schwarzes Schaf drängt sich durch eine Herde von weißen; dann wird die Herde “eins” mit den Arbeitermassen, die in die Fabrik strömen, um dort ihr täglich` Brot mit stumpfsinniger Fließbandarbeit zu verdienen. Charlie Chaplin, der überzeugte Pazifist und subversive Komiker, auch er sah sich als schwarzes Schaf in einer von Arbeitslosigkeit, Armut, Streiks und Hunger gebeutelten Gesellschaft, die sich im Zuge der Industrialisierung zunehmend selbst entmenschlichte. Alles, was er dem entgegenzusetzen hatte, war seine Paraderolle: Der Melone, Spazierstock und weite Hosen tragende “Tramp”, ein - oftmals vom Zufall begünstigter - naiver Rebell des Alltags, der Solidarität wertschätzt. “Moderne Zeiten” war mit Chaplins ehrlichster und anrührendster Film, weil er ein Hohelied auf den Individualismus der Ausgestoßenen anstimmte, während sein Protagonist als unbedarfter Zeitzeuge in die Zahnräder respektive Mühlen des fordistischen Systems geriet.
Mit vertraut watschelndem Gang und perfekt ausbalanciertem pantomimischem Slapstick führt Chaplin uns einen Vagabunden vor, der sozusagen “am unteren Ende der Nahrungskette” des (Früh-)Kapitalismus steht. Er schuftet in der Fabrik und verrichtet tagein, tagaus dieselbe stupide Arbeit. Selbst in der Mittagspause macht er noch die Bewegungen, die er zum Muttern festziehen anwendet. Er schraubt dann eben an den Knöpfen von Blusen und Hosenträgern herum. Zwischendurch wird er als Versuchskanin
chen für eine Essmaschine missbraucht, die ihn mit Maiskolben, Suppe und Konfekt so lange traktiert, bis sie zu rauchen beginnt und schließlich den Geist aufgibt.
Irgendwann verliert der Tramp die Nerven, tanzt vogelwild durch die Fabrik und spritzt seine Kollegen mit der Ölkanne voll. Die herannahende Polizei verfrachtet ihn in`s Gefängnis. Dort kommt er zunächst unfreiwillig in den Genuss von Koks, bevor er - wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort - ein Ausbrecher-Trio überwältigt. Der Tramp wird daraufhin in die Freiheit entlassen; schließlich hat er sich “bewährt” und die vollziehende Ordnung in Schutz genommen. Dass Chaplin eine ausgeprägte Aversion gegenüber Polizei und Verfassungsorganen hegte, war landläufig bekannt. Als der Tramp wieder auf freiem Fuß ist, ist die industrielle Revolution weiterhin in vollem Gange. Und nicht nur das: Eine Kommunistendemo zieht durch die Straßen. Der Tramp hebt nichts ahnend deren vom Wagen gefallene Fahne auf und ist plötzlich der Anführer der Demonstration. Chaplin zog sich zu dieser Zeit immer mehr den Groll der amerikanischen Rechten zu, doch ist sein Statement weniger sozialistisch denn vielmehr humanistisch, denn immerhin weiß der Tramp nicht, welche Bedeutung die rote Fahne hat, und hebt sie nur auf, um sie ihrem Besitzer zurückzugeben.
Eine missglückte Festnahme später trifft der Tramp auf ein mittelloses Tramp-Mädchen (Paulette Goddard, seine damalige Lebensgefährtin), das Brot und Bananen nahe des Hafens stiehlt, um seine Geschwister zu ernähren. Als die Polizei sie stellt, nimmt der Tramp die Schuld auf sich. Zwar tut er dies in erster Linie deshalb, weil er wieder eingesperrt werden will - in der Zelle fühlt er sich wohlbehütet und nicht so verloren wie in der Freiheit - aber auch aus Mitleid. Und so entspinnt sich mehr als nur eine Freundschaft zwischen zwei vom Schicksal Verfolgten. Es ist auch die Freundschaft (Liebe) zweier grundoptimistischer Stehaufmännchen. Von herzergreifender Aufrichtigkeit sind jene Tagträumereien von einem gemeinsamen Heim, in dem Weintrauben von den Dächern bis zur Haustüre hinab wachsen und Kühe durch den Hof spazieren, die “auf Knopfdruck” die Milch in ein Glas abgeben. Paulette Goddards Tramp-Mädchen ist für Chaplins Tramp eine Art Glücksfee in Lumpen; in der Schlussszene schreiten sie Hand in Hand in den Sonnenuntergang - nicht, wie sonst in Chaplins Filmen, der Tramp alleine.
Doch durch die Sicht des Tramps wird auch eine wahrhaftige Sicht auf die “Zeichen der Zeit” offenbar. Die Gelegenheitsjobs im Kaufhaus oder als Kellner zeigen deutlich, dass die Verhältnisse überall die gleichen sind: Die Arbeiter - nicht nur in der Fabrik - sind nichts mehr als Rädchen in der Maschinerie der Marktwirtschaft, welche zu “funktionieren” haben, und zwar in einem streng “geeichten”, geregelten Rhythmus der Produktivität, für den willkürlich sortiert, klassifiziert wird. Als Nachtwächter im Kaufhaus dürfen die Tramps sich eine Nacht lang die Privilegien gönnen, auf Rollschuhen durch die Einrichtung zu gleiten oder in einem warmen Bett zu schlafen; am nächsten Morgen werden sie von der Kundschaft zwischen den Waren (schlafend) entdeckt und verscheucht. Im Esslokal, in dem der Tramp serviert, gelangt die Pute erst über die kuriosesten Umwege zu dem hungrigen Gast, der langsam aber sicher ungehalten wird. Es ist der Chaplin-Humor, den wir alle kennen: Die anspruchslose Einfachheit eines Mannes obsiegt über eine verwöhnte Gesellschaft.
“Moderne Zeiten” brachen damals auch in der Landschaft des Films an. Chaplin, der sich jahrelang der Vereinnahmung des Stummfilms durch den Tonfilm erwehrt hatte, da er der Ansicht war, letzterer beraube das Medium seiner Universalität, drehte hier, im Jahr 1936, den letzten großen Stummfilm. Ein Stummfilm, der Eingeständnisse an den Tonfilm machte und selbigem das Feld dann doch überließ: Chaplins Darsteller sprechen, aber nur an einigen wenigen Stellen - z. B. der Firmendirektor, der über eine Bildwand lautstark Kommandos gibt, die unseren Tramp gar bis auf die Toilette verfolgen, wo dieser sich in aller Ruhe eine Zigarette anstecken wollte (Ein Hauch von George Orwell). Ansonsten sind Maschinen- und Motorengeräusche oder das Gluckern von Chaplins Bauch zu vernehmen, während der die kongenial untermalende Musik wieder eigenhändig komponierte. Gen Ende versucht sich der Tramp im Restaurant als singender Kellner an einem tollkühn improvisierten Pseudo-Italienisch - man könnte meinen: als buchstäblicher “Abgesang” - wenngleich zweifelnd - auf die Stummfilm-Ära. Hierin liegt - analog zum sich vollziehenden Strukturwandel Mitte der 30er-Jahre - die kulturhistorische Bedeutung des Films. Als Plädoyer für Humanität und soziale Gerechtigkeit hat “Moderne Zeiten” ohnehin kaum an Aktualität verloren.