Charles Dickens moralisierende „Eine Weihnachtsgeschichte“ („A Christmas Carol“) aus den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, die vom Lebens- und Sinneswandel des habgierigen Ebenezer Scrooge, der paradigmatisch für alle Menschen des kapitalistischen, materialistischen Systems steht, handelt, zählt wohl zu den bekanntesten Weihnachtserzählungen unserer Zeit, die bereits etliche Male verfilmt wurde. Nachdem sich die Disney-Produktionen mit „Mickys Weihnachtserzählung“ (1983) an den Stoff gewagt hatten, ist es nicht weiter erstaunlich, dass auch die Macher der Muppets auf die Idee kamen, dem ‚Märchen’ ihren eigenen individuellen Stempel aufzudrücken.
Wer jetzt skeptisch ist, der soll beruhigt werden, denn das Ergebnis kann sich sehen lassen: „Die Muppets Weihnachtsgeschichte“ liefert nämlich nicht nur einen stimmigen Film mit familienfreundlichen Qualitäten, sondern stellt auch bezogen auf die dramaturgischen Qualitäten des Drehbuchs eine wahre Höchstleistung dar. Es ist den Autoren gelungen, einen Bogen zwischen der niedlichen, bunten und schrillen Welt der Muppets und der unheimlichen, düsteren Geschichte des habgierigen Ebenezer-„HUMBUG!“-Scrooge, der in tiefster Seelenpein seinen schlimmsten Ängsten und Dämonen begegnet, zu spannen.
Gut veranschaulichen lässt sich dies in jener dunklen Szene, in welcher Scrooge nach einem langen Arbeitstag sein Zuhause betreten will. Eben durften der Große Gonzo alias Charles Dickens, dem
permanent Zitate der Romanvorlage in den Mund gelegt werden und der die Kamera bzw. den Zuseher immer wieder anspricht (auch Dickens Schreibstil ist ja sehr persönlich, direkt und an den Leser gerichtet, insofern leistet hier das Script einen äußerst geschickten Schachzug), und Rizzo die Ratte alias Rizzo die Ratte noch ihre althergebrachten Slapstick-Gags vorführen und das Publikum belustigen, da wird es schlagartig schon wieder unheimlich: Ebenezer möchte die Türe öffnen, doch der Knauf verwandelt sich zur Fratze des verstorbenen Jacob Marley und heult sein lang gezogenes, berühmtes „SCROOOOOOOGE!“, dass es einem durch Mark und Bein fährt und der Zuseher sich einer Gänsehaut nicht erwehren kann.
Nicht unterschätzt werden dürfen an dieser Stelle die schauspielerischen Leistungen des britischen Oscarpreisträgers Michael Caine, der selbst angesichts der kuriosesten Bild- und Setkompositionen sowie der niedlichen Muppets immer todernst zu bleiben vermag und der anspruchsvollsten Rolle der Erzählung voller Pathos und Hingabe stets treu bleibt. Deswegen will es uns auch nicht schwer fallen, uns mit diesem bedauernswerten, doch zunehmend sympathischer und humaner werdenden Protagonisten zu identifizieren, kennt doch beinahe ein jeder (zumindest in Tendenzen) Habgier, Vermehrung des eigenen Besitzes, Sicherung des Wohlstandes etc. Dem Script (und ich betone es noch einmal: Michael Caine!) ist hier ein Charakter von solch facettenreichem Tiefgang gelungen, wie ihn nur wenige Verfilmungen der Dickensschen Vorlage schufen. Zudem beschränkt sich das Drehbuch des knapp 80 Minuten langen Werkes trotz einiger Abänderungen auf das Wesentliche, verliert sich nie in Nebensträngen und wirkt daher harmonischer und in sich geschlossener als andere Adaptierungen der Weihnachtsgeschichte.
Die Dialoge zeugen von hoher Qualität, und neben den wortgewaltigen, pathetischen Kommentaren 'Charles Dickens' dürfen selbstverständlich auch Selbstironie, Wortwitz und Zweideutigkeiten, die zuweilen unter die Gürtellinie gehen (jedoch hängt das von der jeweiligen Synchronisation ab; es lohnt sich auf alle Fälle auch die deutsche Sprachfassung anzusehen bzw. anzuhören), nicht fehlen.
Neben diesem intellektuelleren, filmanalytischen Zugang sollen allerdings nicht die emotionalen und trivialen Elemente des Movies, die ja ebenfalls ihr Übriges zum hervorragenden Gesamteindruck beitragen, unerwähnt bleiben: da wären einmal die Muppets, allen voran Kermit der Frosch als Bob Cratchit, Miss Piggy als Emily Cratchit, und die ewig mürrischen Emporenkritiker Waldorf und Statler als die Gebrüder Marley (die Drehbuchautoren haben hier aus einem einfach zwei Marleys gemacht), die für ihre jeweiligen Rollen der Erzählung wie geschaffen wirken und hervorragend 'gecastet' scheinen.
Die Songs von Paul H. Williams bestechen nicht nur mit ihren gut durchdachten, den Zuseher zum schmunzeln bringenden, prägnanten Texten, sondern treiben zudem das Geschehen voran und drücken damit Bedeutsames in Musik, Gesang und Emotion (vgl. der Song der Marleys) aus, während Miles Goodmans Score so richtig klanggewaltig und oftmals sogar sehr Furcht einflößend das tiefgründige Geschehen untermalt. Hier zeigt sich, dass auch ein Familienfilm mit Musicalcharakter hochwertige Musik-, Tanz- und Gesangeseinlagen abliefern kann, ohne dabei nur auf Kitsch zu setzen oder auf die Tränendrüsen zu drücken.
Die Sets wirken meist sehr eng und können ihren Studiocharakter nicht verbergen. Das stört aber keineswegs, immerhin besteht ja der Film zum Großteil aus einem bildgewaltigen, überdimensionierten Puppenspiel, und die gekünstelten Kulissen verleihen ihm nur noch zusätzlichen, verfremdenden Flair und bezaubernden Charme. Zudem gibt es in Punkto Ausstattung, Kostüme und Muppets, die neben den altbekannten Stars auch Unterstützung durch sprechende Zugochsen, lamentierendes bzw. singendes Gemüse, aufgescheuchte Hühner, süße Mäuschen und Schlittschuh laufende Pinguine erhalten, ohnehin eine derartige Überdosis an Details zu erkennen (auf diese Weise vermag man auch beim fünfzehnten Mal Ansehen, noch immer Neues zu entdecken), dass ein Mehr eine Überforderung unserer optischen Wahrnehmung darstellen würde.
Diese kunterbunte Mischung aus Komik, Märchen, Drama und Gruselthriller (vgl. den monströsen Geist der zukünftigen Weihnacht und Scrooges Verzweiflung angesichts des Namens auf seinem Grabstein) macht Brian Hensons, den Sohn des verstorbenen Muppets-Erfinders Jim Henson, Regieleistung und vierten Muppet-Streifen auch für ältere Jahrgänge zu einem fetten Schmaus für alle Sinne, an dem es gar nichts zu kritisieren gibt.
Auf diese Weise mag es verwunderlich scheinen, dass dieser kongenialen Adaption, welche die mittelmäßige Muppets-Verfilmung von Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“ („Treasure Island“) weit in den Schatten stellt, kein sonderlich großer Erfolg im Kino beschert ward; stattdessen gelang ihr der Durchbruch erst nach ihrer Videoveröffentlichung. Vielleicht lässt sich diese Aufwertung im Nachhinein dadurch erklären, dass die kreativ-einfallsreiche „Die Muppets Weihnachtsgeschichte“ neben den vorweihnachtlichen, stromlinienförmigeren, weniger anspruchsvollen Blockbustern und Kinokonkurrenten des Jahres 1992 „Aladdin“ und „Kevin - Allein in New York“ zu sehr unterging.
Weihnachtsskala (1=sehr wenig/niedrig; 6=sehr viel/hoch)
• Besinnlichkeitsfaktor: 6
• Sing-along-Faktor: 5
• Familientauglichkeit: 6
• Klassiker-/Kultpotenzial: 6
• Starschauspieler-Anteil: 4 (wegen nur einer tragenden Rolle, die einen Schauspieler
und keinen Puppenspieler erforderlich macht)