Wie bereits an anderer Stelle festgestellt wurde, neige ich immer ein wenig dazu, das Visuelle eines Films im Vergleich zu anderen, vielleicht ebenfalls wichtigen Komponenten zu stark zu betonen. Nun, bei Brian De Palmas Hang zu beschaulichen Bildern und seiner oft eklatant ins Pathetische überhöhten Filmsprache (wie etwa in Mission to Mars 2000 oder Femme Fatale 2004) wird mir das nicht passieren.
Die Langsamkeit von John A. Alonzos Kamera (Internal Affairs 1990, oder noch bekannter: Star Trek: Generations 1994), gepaart mit Gerald B. Greenbergs (The Untouchables 1987) und David Rays (Fegefeuer der Eitelkeiten 1990) Schnitt dient in Scarface absolut überzeugend der Vorbereitung einer Brutalität, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt noch in keinem Film(anti)helden geschlummert hatte. Immer dann, wenn Tony Montana (Al Pacino), der Protagonist des Films, dabei ist, eine für sein Leben richtungsweisende Schwelle zu überwinden, bremst sich die Inszenierung ein und wird in der plötzlichen Gemächlichkeit zu einem Verstärker der cineastischen Beobachterposition.
Zum ersten Mal geschieht diese Verlangsamung der Handlungsdarstellung bei Tony Montanas Einführung in die Welt der reichen Drogenbosse: Montana hat sich mit einem gewaltigen Schlag selbst aus der kubanischen Einwanderer-Gosse gehoben und in den Dienst des Drogenbosses Frank Lopez (Robert Loggia) gestellt. Während dieser nun mit Tonys Kumpel Manny Ribera (Steven Bauer) in seiner Luxuslobby dumme S
cherze reißt, zieht sich Tony kurz in sich selbst zurück und wird dann abgelenkt vom Auftritt der jungen, attraktiven, aber vom Leben völlig gelangweilten Elvira Hancock (Michelle Pfeiffer). Die zwei sehr langsamen Bilder, Tony auf der einen und Elvira auf der anderen Seite, werden leicht unterschnitten mit dem banalen Geplänkel der Unbeteiligten im Hintergrund – ein echtes Lehrstück brillanter Figurenexposition, das zum Anstoß der Liebesgeschichte zwischen Tony und Elvira ebenso wie zum Beginn des Konfliktes mit seinem neuen Boss wird.
Im Anschluss an diesen Abend verrät uns Montana auch sein Lebensmotto:
Manny: What do you want, Tony?
Tony: Me, I want what´s coming to me.
Manny: And what´s that?
Tony: The world, chico! And everything in it.
Die zweite Sequenz, die den Zuschauer durch die Langsamkeit der Inszenierung auf die Folter spannt, findet etwa in der Mitte der Handlung statt, als Tony sich von Franks Organisation gelöst hat und er sich in seinem Lieblingsklub in depressiver Verlassenheit umringt von Amüsement und Heiterkeit der Sinnlosigkeit seines Daseins ergibt. Hier baut De Palma zwei Killer ein, die, während Tony seinen Gedanken nachhängt, auf den rechten Moment warten, ihn zu erledigen. In hitchcockscher Manier wird hier Spannung erzeugt, durch die scheinbare Langeweile der Darstellung, die im krassen Gegensatz zum erwarteten Geschehen steht. – Pacinos Tony Montana ist ein Vieh von einem Menschen und der Film will auch noch weiter gehen, also überlebt Tony den Anschlag auf sein Leben nach diesem Moment der Ruhe nicht nur, sondern wird dadurch förmlich in die weitere Handlung hinein katapultiert.
Und auch am Ende des Films, in dessen Gewaltrausch Drehbuchautor Oliver Stone und Regisseur Brian De Palma einander wohl glücklich in die blutigen Arme gefallen sind, lässt sich die Kamera erst einmal viel Zeit: Tonys bester Freund Manny ist ebenso tot wie seine kleine Schwester Gina (Mary Elizabeth Mastrantonio), Montanas Palast wird gestürmt, alles ist verloren. In dieser Situation hängt Tony Montana in seinem Thron, umgeben von den bedeutungslosen Symbolen seiner Macht, mit einer Koksnase, die weiß ist wie die Weihnacht, und erst als ihm die Kugeln schon um die Ohren fliegen, erwacht er aus seinem Dämmerzustand, um sich ein letztes Mal mit aller Gewalt aufzubäumen und in einem Feuerwerk aus Blut und Blei zu verglühen. – Die dritte und letzte von Langsamkeit vorbereitete Wende im fiktiven Leben des von Al Pacino psychopathisch durchgeknallt portraitierten Tony Montana entlässt den Zuschauer schließlich leidenschaftlich aufgewühlt aus dem Film.
Scarface basiert auf der gleichnamigen Romanverfilmung von Howard Hawks aus dem Jahr 1932, welche sich ursprünglich das Leben Al Capones zum Vorbild genommen hatte. Oliver Stone verlegte in der Neuadaption die Handlung ins Miami der 80er Jahre – poppig bunt und doch typisch dunkel – und machte aus dem italo-stämmigen Al Capone den kubanischen Einwanderer Tony Montana, der es im Bandenwesen und Kokaingeschäft der Region zu freilich nur kurzlebiger Größe bringt.
Der Film gehört zu den Meilensteinen des Gangsterfilms. Sein harter Realismus, die knackigen Bilder und eine Sprache der Straße, wie sie in früheren Filmen so nicht zu hören war, machen Scarface zum Klassiker, der in die Reihe überragender Genrefilme tritt, etwa zwischen Francis Ford Coppolas Godfather (1972) und Martin Scorceses Good Fellas (1990). [Tony über Miami: „This town is a great big pussy, waiting to get fuckted.“]
Und um nun doch noch ein Wort zur Bildgestaltung zu verlieren, sei auf jene Momente im Film verwiesen, in denen Tony wegen vermeintlichem Fehlverhalten seiner Schwester Gina gegenüber völlig austickt: Rotes Licht, Detail auf die Augenpartie und sirenenartige Musik. – Welcher zur Zeit sehr angesagte Regisseur hat sich das für welche seiner Filme von De Palma wohl abgeguggt? Dreimal darf man raten!