Die Kraft des Wortes ist wahrlich nicht zu unterschätzen. Denn es ist nur ein einziger, augenscheinlich unbedeutender Satz am Ende des vorliegenden Films, der jede noch so abstruse Überspitztheit der vorangegangenen Minuten plötzlich ins rechte, reelle Licht rückt. Mit einem Mal macht so ziemlich alles, was zuvor zu sehen war, auf eine erschreckende Art und Weise Sinn, wenn ein schelmisch grinsender
Ed Harris ("
Pain & Gain" [2013]) das bisher zu verfolgende Geschehen äußerst süffisant als
Blockbuster mit unvorhergesehener Wendung deklariert. Beinahe schon selbstreferenziell hebt sich das vorher noch ein wenig unentschlossen wirkende Werk hiermit auf ein überraschend einheitliches Level, das in einem zwar konsequenten und bittersüßen, aber letztlich dann doch etwas zu abrupt endenden Finale kulminiert, das den Rezipienten geplättet und ein wenig verwirrt zurücklässt.
Überrascht? Vielleicht fragt sich ja gerade der ein oder andere, warum wir bereits vorab auf das Ende des Films zu sprechen kommen und sogesehen das herkömmlich bewährte Muster unserer Rezensionen aufbrechen. Antwort: Es bietet sich im vorliegenden Fall geradezu an. Denn die recht freie Graphic-Novel-Adaption
"SNOWPIERCER", eine zweifelsohne sperrige Vertreterin von Sci-Fi-Dystopie, behandelt nicht von ungefähr das Motiv des
Perpetuum mobile, eines ewig in Bewegung bleibenden Kreislauf
s. Anfang und Ende verschmelzen hier auf Schienen, die Leben und Tod zugleich darstellen. Heraus kommt letztlich ein Film, der sich auch bis kurz vor Schluss nicht in ein allzu enges Genre-Korsett pressen lassen will, sondern immer wieder zwischen gewagter Satire, herrlich überzogener Groteske, anspruchsvollem Genrekino und actiongeladener Gewalt-Ballade schwankt. Und das ist auch gut so. Denn einen interessanteren Mix verschiedenster Stile, darüber hinaus noch gepaart mit einer wichtigen und nachhallenden Botschaft, wird es in diesem Jahr wohl nicht mehr zu sehen geben. Möge die Fahrt im Zug des Lebens beginnen:
2014: Um die globale Erwärmung aufzuhalten, einigen sich 79 Staaten darauf, ein Kältemittel in die oberen Schichten der Erdatmosphäre zu schießen. Mit fatalen Folgen. Denn die Maßnahme schlägt sich in einer todbringenden Eiszeit nieder, die nach und nach alles Leben auf der Erde auslöscht.
2031: Ein Leben auf dem Planeten Erde ist nicht mehr möglich. Die wenigen Überlebenden der Klimakatastrophe konnten als Passagiere eines speziell entwickelten Zuges, der auf einem weltweiten Schienennetz ohne Unterlass seine Runden dreht, gerettet werden. Doch die vermeintliche Rettung trügt, denn in diesem Zug herrscht strenge Hierachie. Vorne schwelgen die Privilegierten in protzendem Luxus, während die Minderprivilegierten in den hinteren Waggons wie Sklaven gehalten werden.
Einige der hinteren Passagiere, namentlich der traumatisierte Curtis (Chris Evans), der junge Edgar (Jamie Bell) und weitere Leidensgenossen, planen schließlich eines Tages eine risikoreiche Revolution, indem sie gewaltsam bis zur Zugspitze vordringen und die Macht im Lebenszug übernehmen wollen. Ob dies gelingen wird? Denn dem Feind bleibt dieser Plan nicht verborgen...
Harte, deutliche Worte: Nach Sichtung des fertigen Films forderte der berühmt-berüchtigte Filmproduzent Harvey Weinstein, der aufgrund seiner rigorosen Filmschneidepraxis in Hollywood zuweilen nur noch
Harvey mit den Scherenhänden genannt wird, eine Kürzung des Films um 25 Minuten, da er ihn ansonsten gar nicht erst ins Kino bringen werde. Zu intelligent wäre das Werk anscheinend, um es dem herkömmlichen Publikum zumuten zu können. Mehr noch: Dieses würde den in seiner Ur-Form sehr anspruchsvollen Film überhaupt nicht verstehen, weshalb das Hauptaugenmerk auf mehr Action und weniger Handlung gelegt werden müsste. Dass Weinstein letztlich dann doch noch einknickte und die ungeschnittene Fassung des Films für den Vertrieb freigab, ist trotz des hierzulande nur schwer zu verstehenden Hickhacks sicherlich begrüßenswert, hat aber leider auch einen bitteren Beigeschmack. Denn gezeigt werden darf der Film nun nur noch in ausgewählten (Programm-)Kinos – obwohl die bisherige Kinoauswertung in einigen Ländern bereits mehr als das Dreifache (!) der Produktionskosten in Höhe von 40 Mio. US-Dollar erwirtschaften konnte. Sind wir ehrlich: Kein Grund erscheint plausibel genug, um diese seltsame Farce zu rechtfertigen. Denn dass ein Übermaß an Action keine vormals vorhandene Handlung mit Subtext ersetzt und einem Film wie diesem somit wohl eher schaden als helfen würde, dürfte so ziemlich jedem einleuchten. Aber das ist Hollywood, wo die Uhren anders ticken.
Freuen wir uns jetzt lieber erst einmal darüber, dass der Film in seiner ungeschnittenen, zweistündigen
Director's Cut-Fassung
überhaupt das Licht der Leinwand erblickt. Denn egal, ob nun im Programmkino oder flächendeckend in den Multiplexen gestartet: Dieser ungewöhnliche Film über eine Revolution der besonderen Art gehört ins Kino, auf die große Leinwand. Die apokalyptischen Bilder einer unter Eis begrabenen Welt, die selbst noch im Vorbeifahren eine morbibe Schönheit ausstrahlen, sind trotz des überschaubaren Budgets faszinierend anzuschauen und stehen im direkten Kontrast zu den düsteren Interieurs der hinteren Zugwaggons. Kälte, Hoffnungslosigkeit und Tristesse dominieren hier den Alltag, so dass es eigentlich nur eine Frage der sich unter diesen Umständen endlos dehnenden Zeit war, bis sich die Hinteren endlich gegen die im Wohlstand lebenden Vorderen erheben sollten, um das System der Klassengesellschaft wortwörtlich auf die Spitze zu treiben. Mit den klassischen Mitteln der Satire, bei der einem das Lachen naturgemäß im Halse stecken bleibt, zeichnet "
The Host"-Regisseur
Bong Joon-ho das erschreckende Bild einer aus einer Katastrophe geborenen Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet. Immer präsent: Die Metapher vom Kreislauf des Lebens, die hier von Joon-ho und seiner Co-Autorin dadurch pervertiert wird, dass sich der Zug als die vermeintliche Rettung vor der tödlichen Klima-Katastrophe ironischerweise ohne Unterlass um Letztere dreht. Immer in Bewegung, und doch regiert der Stillstand. Denn der Schnee wird gänzlich unbeeindruckt weiter fallen.
Zumindest im Inneren kommt jedoch mit zunehmender Laufzeit Bewegung in die Sache. Denn als es den eingepferchten Menschen in der hinteren Klasse schließlich zu viel wird, explodiert das Geschehen förmlich. Den Kopf des Widerstandes, der mal eben die nicht wiederzuerkennende und nahe am Rande des Grotesken agierende
Tilda Swinton ("
Michael Clayton" [2007]) als Geisel nimmt, bildet dabei ein traumatisierter, aber noch nicht desillusionierter
Chris Evans ("
Sunshine" [2007]), der in bester
Captain America-Manier das Gleichgewicht wiederherstellen möchte. Doch anders als der patriotische
Marvel-Streiter geht dieser Anti-Held für das Vorankommen seiner unterdrückten Mitmenschen auch über Leichen. Genauso wenig feinfühlig nämlich, wie die Oberen ihre Untergebenen behandeln, zahlt Evans mitsamt seinen Leidensgenossen es ihnen nun heim. Regisseur Joon-ho fängt dabei in erschreckend-betörenden Bildern das martialische Geschehen ein, das zuweilen gar an eine präzise durchchoreographierte Tanzeinlage zu einer Kakophonie des Grauens erinnert. Gerade die äußerst ungewöhnliche Kampfsequenz während einer längeren Tunnelfahrt, welche der Zuschauer gemeinerweise teils nur durch die Nachtsichtgeräte der unzählig vorhandenen Gegner wahrnimmt, bleibt als hartes, kompromissloses Meisterstück in bester Erinnerung. Vor allem in diesen Momenten zeigt sich
"SNOWPIERCER" als wenig zimperliches, packendes Endzeit-Actionkino auf der Höhe der Zeit, da die Gewalt niemals zum Selbstzweck verkommt. Vielmehr wird uns mehr als deutlich vor Augen geführt, dass ein vermeintlicher Sturm im Wasserglas sich durchaus noch zum waschechten Orkan wandeln kann, so dass Schäden nicht unwahrscheinlich sind.
Dass die Mitstreiter im Widerstand allesamt ein sympathisches, teils sehr prominentes Gesicht erhalten, wovon im Grunde genommen jedes für sich eine eigene Geschichte zu erzählen wüsste, lässt die zahlreichen Verluste in den eigenen Reihen noch einmal umso tragischer erscheinen. Hier macht Joon-ho keine Gefangenen. Der im Zugvolk gesäte Wind bricht sich als Sturm Bahn und lässt Menschen regelrecht wie Herbstlaub fallen. Gewalt und Gegengewalt geben sich mit brutaler Härte ein Stelldichein, das mitnimmt. Immer mittendrin sind mit Einfallsreichtum und Originalität zwei Posten, die sich zuweilen ein wenig selbst bekriegen. So trieft etwa die Sequenz im Schulwaggon des Zuges noch vor bitterster satirischer Überzeichnung, wenn den Insassen das volle Ausmaß manipulativer Gehirnwäsche gewahr wird, nur um im Anschluss von einem innovativen Schusswechsel abgelöst zu werden, der in dem Moment, als der Zug eine größere Kurve fährt, über zwei kurzzeitig gegenüberliegende (!) Waggons geführt wird. Diese Stimmungswechsel sind bezeichnend für den Film und ziehen sich wie ein roter Faden bis in den vorderen Waggon, in dem schließlich die Weichen für Sieg oder Niederlage, Leben oder Tod gestellt werden.
Leider hält der Film dieses zwar uneinheitliche, nichtsdestotrotz sehr hohe Grundniveau nicht über die volle Laufzeit durch, sondern verliert sich vereinzelt in illustren Nebenschauplätzen, die zwar allesamt schön anzusehen sind, in ihrer Intensität den vorangegangenen Minuten aber deutlich nachstehen. Dass alles am Ende zwar seine Daseinsberechtigung hat, wurde ja bereits eingangs erwähnt. Doch die recht sprunghafte Stringenz des zweistündigen Geschehens lässt das Goutieren – auch wenn sich später alles irgendwie in Wohlgefallen auflöst – zumindest in den jeweiligen Momenten zu einem teils recht schwerfälligen Vergnügen werden. Nur derjenige, der bis zum bitteren Ende durchhält und das Gesehene schlicht als gegeben hinnimmt, wird belohnt werden, was in gewisser Weise auch auf unsere Helden zutrifft. Denn am Schluss wartet in jedem Fall eines: Klarheit. Sowohl für die Menschen im Zug als auch für uns. So schließt sich dann auch der Kreis wieder einmal und lässt im vorliegenden Fall zurückblicken auf ein unbestritten ungewöhnliches Filmerlebnis, das es in dieser Form leider viel zu selten auf der großen Kino-Leinwand zu bestaunen gibt. Daher ein Rat: Unbedingt ansehen!
Fazit: Das sitzt: Der absolute Geheimtipp
"SNOWPIERCER" pflügt gänzlich ungeniert durch herkömmliche Sehgewohnheiten und stellt diese dabei genüsslich auf den Kopf. Und auch wenn die komplette Chose am Anfang noch etwas sperrig und befremdlich wirken mag: Durchhalten! Denn dies ist die fraglos intelligenteste Sci-Fi-Dystopie seit langer Zeit.
Cover & Szenenbilder: © MFA+ FilmDistribution e.K.