Das Prädikat Kult wird im Bereich der Filmkunst von diversen Kritikern gerne mal überstrapaziert. Schränkt man den Gebrauch dieses Wörtchens aber auf ein Minimum ein, kommt man dennoch nicht umhin, Ben Stillers frühe Regiearbeit “Reality Bites”, die für den deutschen Verleih den - gelinde gesagt - etwas unglücklichen Titel “Voll das Leben” erhielt, diese Definition zuzuordnen. Stiller gelang mit der entwaffnend echten, ungeschminkten und direkten Tragikomödie schlicht und ergreifend einer der schönsten Filme über die schlagwortartig Generation X genannte Slacker-Generation der 90er-Jahre. Nicht nur im Herz des Autoren dieser Zeilen hat der Streifen jedenfalls ein Plätzchen gefunden…
Die junge College-Absolventin Lelaina (Winona Ryder) teilt sich ein Apartment mit ihrer besten Freundin Vickie (Janeane Garofalo), beherbergt allerdings vorübergehend auch noch Kumpel Troy (Ethan Hawke), ein zielloser Hobbyphilosoph, der eine Arbeitsstelle sucht. Lelaina, die in einer billigen Fernseh- Show als Produktionsassistentin tätig ist, möchte ebenfalls den Job wechseln, da sie mit ihrem Chef nicht klarkommt, der behauptet, sie passe nicht in das Konzept der Sendung. Dann trifft Lelaina den verlässlichen, aber etwas schusseligen Michael (Ben Stiller), Produzent der Sendung “In Your Face TV”. Doch als sich die beiden näher kommen, entwickelt der gefasste Troy plötzlich Eifersuchtsgefühle. Lelaina fühlt sich zwischen zwei Männern hin und her
gerissen…
Obwohl die Figur Winona Ryders in ihrer Freizeit mit einer Digicam Videos über ihre Freunde dreht, wäre es vermessen, den Film in irgend eine halbdokumentarische Schublade zu stecken, wo eine solche Art und Weise der Inszenierung aufgesetzt und gekünstelt authentisch wirken würde. Nichts an “Reality Bites” wirkt auch nur im Ansatz gekünstelt, der Film kommt mit einer Wahrhaftigkeit und Lebensnähe daher, die einfach hinreißend ist. Das Werk ist abwechselnd dramatisch, romantisch, aber auch mal situationskomisch. Das brillante Drehbuch von Helen Childress schreibt den Protagonisten kluge, intelligente Dialoge auf den Leib, und schneidet auch mal unangenehmere Themen wie Arbeitslosigkeit oder Existenzängste und damit verbundene Selbstzweifel an. Die Charaktere sind indes sehr präzise gezeichnet, so dass es dem Zuschauer spielend möglich ist, sich mit ihnen zu identifizieren.
Wie in Richard Linklaters “Before Sunrise” dreht sich der Inhalt von “Reality Bites” um das Lebensgefühl einer Gruppe von gesellschaftlichen Aussteigern, die sich von den äußeren Umständen wie der Bedrohung der Umwelt durch Zerstörung von Lebensraum oder auch das Fehlen von beruflichen Perspektiven beeinflusst sieht, die nach ihrer eigenen Identität sucht und sich gegen die in ihren Augen naive, zum Wohlstandsglauben tendierende Mentalität ihrer Vorfahren stellt
(1). In dieser Hinsicht geht Stillers Film in Richtung Zeitgeist. Dennoch ist die Handlung von “Reality Bites” keine an eine bestimmte Zeit gebundene, sondern eine warmherzige Geschichte über Liebe, Freundschaft und Selbsterkenntnis, mit einer offenen Ehrlichkeit vorgetragen.
Doch was wäre “Reality Bites” ohne seine durchweg überzeugenden Darsteller!? Winona Ryder, die wir als wandlungsfähige Aktrice aus “Night On Earth” oder “Durchgeknallt- Girl, Interrupted” in Erinnerung haben und die zwischenzeitlich mit Francis Ford Coppolas Variante des klassischen Bram Stoker- Romans “Dracula” auch mal einen Ausflug ins Horrorgenre unternahm, spielt in gewohnt beeindruckender Manier. Ryder verleiht der Lelaina nicht nur das nötige Quäntchen Glaubwürdigkeit, sondern entwickelt ihre Figur auch unheimlich vielschichtig und facettenreich. Ethan Hawke, der später in “Before Sunrise” erneut sein ausgeprägtes Talent für Charakterrollen unter Beweis stellen sollte, spielt die Rolle des lässigen Troy, der in den Tag hineinlebt und keine konkreten Ziele vor sich hat, der glaubt, seine Intelligenz verschaffe ihm Privilegien unter seinen Mitmenschen, sehr nuancenreich und ebenfalls glaubwürdig- so wie sein männlicher Kollege Ben Stiller, der nicht nur als Regisseur alles richtig macht und die Figur des Michael auf eine dem Publikum vertraute, liebenswerte Art darstellt. Genauso hervorhebenswert sind auch die Leistungen der anderen Mimen, die sich aus bekannten Gesichtern wie Joe Don Baker, Renee Zellweger oder Steve Zahn zusammensetzen und passend in das Gefühlskarussell der Hauptfiguren integriert sind. Vergessen werden darf auch nicht Janeane Garofalo, die als Lelainas Mitbewohnerin Vickie ein paar starke Szenen an sich reißen kann.
Die handwerkliche Qualität fällt nicht aus dem Rahmen und präsentiert sich als angemessene Ergänzung zum grandiosen Inhalt. Auch die Auswahl der Musik vermag zu begeistern. Der Soundtrack mit Bands wie Crowded House oder U2, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist auf den Punkt gebracht umwerfend. Sogar die gelegentlichen Gesangseinlagen der Schauspieler können sich hören lassen, etwa Ethan Hawkes Rock- Interpretation mit seiner Filmband.
Diejenigen, die beim Lesen des deutschen Titels einen dieser billigen Ramsch-Filme aus der Abteilung der Massenware erwarten, sollten sich nicht abschrecken lassen. “Voll das Leben - Reality Bites” ist mehr als ein simples Coming-of-Age-Abenteuer. Ben Stiller kann sich auf die Fahnen schreiben, mit diesem Werk einen kleinen Instant-Kultfilm geschaffen zu haben, der trotz seiner Low-Budget-Verpackung ein ganz großes Publikum verdient hat. Direkt aus dem Leben gegriffen, einfach nur klasse…!
(1) siehe hierzu auch den Roman über die "Generation X" von Douglas Coupland