von Asokan Nirmalarajah
Seit dem euphorischen Empfang, den ihm Kritik und Publikum bei der Deutschlandpremiere auf der 61. Berlinale Anfang letzten Jahres bereitete, hat
Nader und Simin – Eine Trennung (2011), das komplexe Familiendrama des iranischen Autorenfilmers Asghar Farhadi eine grandiose Siegesserie hingelegt. Die ersten Trophäen, die
Jodaeiye Nader az Simin (so der Originaltitel des Films, der im englischsprachigen Raum einfach nur
A Separation heißt) gewann, waren der Goldene Bär für den besten Film, sowie zwei Silberbären für die besten Schauspieler und Schauspielerinnen. Damit wurde nicht nur zum ersten Mal ein iranischer Festivalbeitrag mit dem Hauptpreis der Veranstaltung geehrt, sondern erstmals gewann auch ein Werk gleich drei Preise in einem Jahr. Unzählige weitere Auszeichnungen später, einschließlich eines Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film des vergangenen Kinojahres, steht der Film nun vor dem mehr als sicheren Oscar-Sieg. Doch ist der bestbesprochene Film von 2011, so RottenTomatoes.com, wirklich so gut wie überall zu lesen und zu hören ist? Ja, das ist er tatsächlich, wenn auch er zu Anfang noch nicht wirklich erahnen lässt, zu welcher dramatischen Intensität er sich zum Schluss hin steigern wird.
Nach vierzehn gemeinsamen Jahren will sich das zerstrittene Ehepaar Nader (Peyman Moaadi) und Simin (Leila Hatami) aus der gehobenen iranischen Mittelschicht Tehrans endgültig scheiden lassen. Während die progressive Simin ihre konservative Heimat verlassen und mit ihrer Familie ins Ausland möchte, um ihrer elfjährigen Tochter Termeh (Sarina Farhadi) ein besseres, weil freieres Leben zu ermöglichen, sträubt sich ihr Gatte davor, seinen alten, hilflosen Vater allein im Iran zurückzulassen. Der an Alzheimer erkrankte Rentner (Ali-Asghar Shahbazi) lebt in einem Zimmer der großzügig geschnittenen Familienwohnung und muss täglich gepflegt werden. Als Simin vom Familiengericht nicht die Erlaubnis erhält, sich von ihrem Mann zu trennen, zieht sie zu ihrer Mutter. Daraufhin stellt Nader die schwangere Razieh (Sareh Bayat) aus den armen Vororten der Stadt als Haushaltshilfe und Pflegerin seines Vaters ein. Doch die scheue, gottesfürchtige Frau, die ohne Erlaubnis ihres arbeitslosen Gatten Hodjat (Shahab Hosseini) und mit ihrer kleinen Tochter Somayeh (Kimia Hosseini) zur Arbeit kommt, ist schon bald überfordert von der Aufgabe. Bald eskaliert die ungewohnte Situation durch eine Reihe von Missverständnissen und unglücklichen Zufällen...
Wie bei seinem unmittelbaren Vorläufer, dem mit dem Silbernen Bären für die beste Regie geehrten Drama
Alles über Elly (2009), handelt es sich auch beim fünften Kinofilm des international renommierten Filmemachers Asghar Farhadis um ein eindringliches Drama, das als nüchterne Milieustudie beginnt, um schon bald in ein geschickt verwobenes, faszinierendes Mysterium zu kippen, das bis zum ergreifenden Schlussbild fesselt. Basierend auf persönlichen Erfahrungen, die Farhadi als iranischer Staatsbürger gemacht hat, wirkt
Nader und Simin – Eine Trennung auf dem ersten Blick noch recht unscheinbar und wie aus dem Leben gegriffen. Trotz der hitzigen Auftaktsszene zwischen den zwei Titelfiguren vor dem anonymen Scheidungsrichter ist man in den ersten, mit allerlei scheinbaren Beiläufigkeiten gefüllten Minuten des Films, in denen die zentralen Figuren der Handlung und ihre komplizierten Beziehungen zueinander vorgestellt werden, nicht darauf vorbereitet, wie verworren und vertrakt die Situation zwischen allen Beteiligten noch werden wird.
Denn
Jodaeiye Nader az Simin handelt entgegen seinem täuschend einfachen Titel von weit mehr als von der Trennung eines Ehepaares. Die hieraus direkt oder indirekt folgenden Komplikationen bringen nicht nur das Leben gleich mehrerer Familienmitglieder aus dem Gleichgewicht, sondern legen auch die moralischen, psychologischen und sozialen Widersprüche offen, in denen sich immer mehr Figuren verhadern. Der religiöse Konservatismus der ökonomischen Unterschicht und die egoistische Progressivität der gesellschaftlichen Oberschicht, aus denen die zwei handlungstragenden Eheepaare jeweils stammen, werden nicht einfach nur hinsichtlich ihrer Eigenheiten vorgeführt, sondern auf ihre Alltagsfähigkeit hin problematisiert. Dabei schlägt sich das intelligent strukturierte, ebenfalls für den Oscar nominierte Skript auf keine Seite, sondern zeichnet sämtliche Figuren mit einer solchen Klarheit und Empathie, dass man als Zuschauer in den öffentlichen Streitgesprächen vor Gericht und den privaten Diskussionen daheim ständig hin- und hergerissen ist.
Die schmucklosen, aber lebendigen und vorwiegend mit nervöser Handkamera eingefangenen Bilder, die Kameramann Mahmood Kalari für den Film zaubert, konzentrieren sich in erster Linie auf die expressiven Gesichter der durchweg fabelhaften Besetzung, die zutiefst menschliche, durchschnittliche Figuren voller offenkundiger Charakterfehler und verborgenem Gutwillen spielen, ohne dabei das Wohlwollen der Zuschauer zu verlieren. Das realistische Spiel aller, einschließlich Sarina Farhadi, der aufgeweckten Tochter des Regisseurs, die die elfjährige Termeh gibt, die als machtlose, vom Verhalten der Erwachsenen mehr und mehr enttäuschte Hauptidentifikationsfigur der Geschichte fungiert, verleiht den Figuren des Films ein eindrucksvoll authentisches Eigenleben. Dadurch hat der Film nicht selten auch etwas von einem halb-dokumentarischeb, voyeuristischen Kammerspiel, in der die Wahrheit oft ebenso wenig zu Glück und Frieden führt wie die Lüge.
Die Blu-ray-Veröffentlichung aus dem Hause Alamode Film zu dem trotz seiner üppigen Laufzeit von über zwei Stunden durchweg packenden Sozialdrama wartet mit nur wenigen, aber lohnenswerten Extras auf: Interviews mit Haupdarstellerin Leila Hatami und Regisseur Asghar Farhadi, dessen bisheriges Oeuvre im Featurette „Geburt eines Regisseurs“ mit erhellenden Auszügen aus seinen früheren Filmen noch etwas genauer durchleuchtet wird.