Klassische Dystopien schwelgen gerne in einem schwarzmalerischen Horizont und changieren in der Regel – mehr oder weniger geschickt – zwischen plumper Sozialkritik und panoptischer Schauergeschichte. Die meisten dieser negativutopischen Vehikel sind dann auch Adaptionen literarischer Vorlagen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die mit Orwells 1984 eine der populärsten Zukunftsvisionen hervorgebracht hat. Aber auch Robert A. Heinleins
Starship Troopers, Richard Mathesons
I Am Legend und Anthony Burgess‘ Clockwork Orange sollten dem gemeinen Cineasten ein Begriff sein. Spätestens ab den 80ern verlagerte sich das popkulturelle Spiel mit der Zukunft ins Medium des Comics und auch hier sind die filmischen Adaptionen meist jüngeren Datums, namentlich: Millers
Sin City,
V wie Vendetta oder Moores
Watchmen. Vielleicht ist es diesem adaptiven Anachronismus zuzuschreiben, dass gerade ein Eigenentwurf des damals unbekannten Andrew Niccol angenehm aus dem institutionalisierten Pessimismus heraussticht: Sein elegischer Science-Fiction-Essay
Gattaca widmete sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts einem medizinisch und ethisch äußerst s
ensiblen Themas, namentlich der Präimplantationsdiagnostik. Mit dem hochkarätig besetzten Streifen extrapolierte der neuseeländische Regisseur, der später auch Jim Carrey in seiner Truman Show auftreten lassen sollte, das populäre Streben nach Perfektion in eine nahe Zukunft und lieferte damit gleichzeitig eine der intelligentesten Zukunftsvisionen, die der visionär orientierte Zuschauer auf Zelluloid finden kann.
In einer nicht allzu fernen Zukunft: Die Gentechnik ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass das menschliche Leben bereits vor der Geburt des eigentlichen Organismus wie ein offenes Buch gelesen werden kann. Mit der Statistik steht obendrein das Handwerkszeug bereit, die Gensequenzen in praktikable Zahlen zu übersetzen - Retortenbabies sind prinzipiell die bessere Wahl. Pädagogisch heißt das: Erziehung ist nur die halbe Miete, das wahre Potenzial steckt in den Genen. Dennoch entschließt sich das Ehepaar Freeman ihren Sohn Vincent auf „klassischem“ Wege zur Welt zu bringen. Doch bereits bei der Geburt ist klar: Vincent ist mit einem Herzfehler geboren, der seine Lebensuhr um so lauter Ticken lässt. Nicht so sein Bruder Anton, der nicht zu den sogenannten „Gotteskindern“ gehört. Dennoch verfolgt Vincent einen ambitionierten Traum: Als Astronaut zu einem der Monde des Saturn zu fliegen. Doch der Wunsch scheint unerreichbar: Die Gattaca Aerospace Corporation (Anm.: Der Name Gattaca ist aus den Anfangsbuchstaben der vier Nukleinbasen zusammengesetzt) setzt auf leistungsfähige Retortenmenschen, Vincent schafft es mit seiner genetischen Disposition gerade einmal zur firmeneigenen Putzkolone. Doch dann tut sich für den ehrgeizigen Vincent eine Option auf: Der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzende Gerome Morrow hat seine Identität zu verkaufen – und die ist genetisch perfekt…
Niccol schlägt mit seinem Debut ruhigere Töne an, als man es von vergleichbaren Produktionen gewohnt ist. Anstatt sich in einem sozialkritischen Plädoyer zu verlieren und den flächendeckenden Überwachungsstaat (wieder einmal) zu prophezeien, schreibt der Neuseeländer seine Figuren um sein repressives Szenario herum und gönnt ihnen die Unvermittelbarkeit des Menschlichen. Zentrales Sujet ist dabei die allgegenwärtige Körperlichkeit, die drohend am Horizont lauert: Einerseits verausgabt sich Vincent trotz seines Herzfehlers bis zum Äußersten, andererseits drohen ihn körperliche Artefakte zu entlarven. Als Gegenpol inszeniert Niccol den „invaliden Validen“ Jerome als körperlich gebrochenen Perfektionisten, der in Vincents Ehrgeiz einen Katalysator für seinen eigenen gescheiterten Traum ausmacht. Die körperliche Asymmetrie dieser Konstellation findet in den Motiven der Figuren ihre einende Symmetrie. In der Schnittmenge der Hauptprotagonisten etabliert das Drehbuch die Figur der Irene als prekäres Moment. Die introvertierte Blonde spielt nicht nur dramaturgisch des Öfteren das Zünglein an der Waage, sondern dient gleichermaßen als symbolisches Korrelat jener Körper-Geist-Abhängigkeit der beiden Männer. Diese figurative Triade weist Gattaca dann auch als differenziertes Charakterdrama aus und weniger als technokratiekritisch akzentuierte Massenware.
Dazu gesellt sich auf formaler Ebene ein feinsinniger Umgang mit Bild, Ton und Erzählstruktur. Gattaca schwelgt in einer Melange aus akzentuiertem Retro-Look und bedächtigen Einstellungen, immer passend begleitet vom unaufdringlichen Soundtrack von Ausnahmekomponist Michael Nyman (Das Piano); der preisgekrönten Kamera von Sławomir Idziak (Black Hawk Down) gelingt der Balanceakt, trotz grundsätzlich kühler Optik eine implizite Wärme zu installieren: Der Film verzaubert und ist in seinen leisen Tönen unbeschreiblich schön. Im Aufbau verfährt Niccol klassisch: Zu einer Exposition, die das Verhältnis der beiden Brüder fundiert, gesellt sich ein Kriminalplot, der das retardierende Moment liefert und den Figuren den nötigen Spielraum einräumt, um sich nachhaltig zu verorten. Diese formelle Sparsamkeit ist keinesfalls eine unsichere Zurückhaltung des jungen Niccol: Gattaca formiert sich förmlich um seine Subtilitäten, die dann auch von der namhaften Schauspielerriege das Äußerste an darstellerischer Feinfühligkeit abverlangen.
Ethan Hawke, Jude Law, Uma Thurman - Tatsächlich kann bei diesen Namen nicht mehr viel schiefgehen. Hawke (
Before Sunset; Training Day) gelingt es souverän seiner Hauptrolle die nötige Ambivalenz zu verliehen: Vincent ist introvertiert und labil, aber ebenso ehrgeizig und unendlich entschlossen. Was im Ausbildungstrakt der Gattaca Corporation auch räumlich seine Entsprechung findet, muss Hawke dann aber vor allem in der Identitätsmetamorphose seiner Figur stemmen. Dagegen verkörpert Jude Law (
Hautnah; derzeit mit
Das Kabinett des Doktor Parnassus im Kino) den charismatischen, aber körperlich gebrochenen Lebemann, den er mit akzentuierter Theatralik zeichnet. Vor allem das großartige Minenspiel des Briten weiß zu überzeugen und man lehnt sich sicherlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man vermerkt, dass Gattaca sicherlich zu den besten Einträgen in der Filmografie des inzwischen Siebenunddreißigjährigen gehört. Uma Thurman (
Pulp Fiction; Mit Schirm, Charme und Melone) hingegen wurde weithin für ihre zurückhaltende Darstellung der Irene kritisiert. Was aber auch schon Tarantino an der blassen Schönheit gereizt hat, greift auch in Gattaca: Thurmans markantes Gesicht steht in einem wunderbaren Kontrast zu ihrer eleganten Präsenz. Kurz und knapp: Die brüchige Identität jeder einzelnen Figur findet ihre schauspielerische Entsprechung. Niccol hat seine Identitätsparabel fantastisch besetzt.
Gattaca mag oberflächlich einer panoptischen Vision gleichen. So entwirft Niccols zwar eine umfassende Kartographie der organischen Identität des Menschen, kontrastiert diese aber mit einer verborgenen Wärme, die sich schwerelos über ihr klinisches Umfeld erhebt und dabei weder Pathos noch rebellische Gesten in Anspruch nimmt. Vielmehr verweilen die Figuren bei sich selbst, bei ihren Motiven und Motivationen, die nie anklagend externalisiert werden. Liest man Gattaca in diesem Sinne, entfaltet sich dem Zuschauer eine optisch famose, dramaturgisch differenzierte und hochkarätig besetzte Identitätsfabel, die weder den wahren Menschen einfordert, noch mit dem Gestus einer Befreiung kokettiert, sondern durch gekonnte Zurückhaltung zu begeistern weiß. Gattaca ist deshalb ein Sonderstatus in der Flut Science-Fiction-Dystopien zuzuweisen. Bisher hat Niccols Meisterwerk leider nicht annähernd die Aufmerksamkeit bekommen, die es verdient hätte.