ES FÄHRT EIN ZUG NACH NIRGENDWO
Ein Waggon, sechs Menschen, ein verheerendes Unglück: Mehr benötigt Drehbuchautor und Regisseur
Andreas Schaap („
Must Love Death“ [2009]) nicht, um in
„DAS LETZTE ABTEIL“ einen klaustrophobischen Alptraum zu kreieren, aus dem es kein Erwachen gibt. Oder doch?
1986: Nach einem Lawinenunfall in den Alpen finden sich sechs überlebende Passagiere eines Zuges in einem abgetrennten Waggon wieder, begraben unter gewaltigen Schneemassen. Da die Luft langsam knapp zu werden droht und eine alsbaldige Rettung nicht in Sicht scheint, suchen die Verschütteten um die junge Greta (überragend: Anna Fischer), die sich auf dem Weg zu ihrer seit Jahren im Koma liegenden Mutter befindet, fieberhaft nach einem Ausweg aus der Misere. Als dann zu allem Überfluss noch eine verstümmelte Leiche entdeckt wird, ist der Alptraum für die Verunglückten vollends perfekt, denn der Mörder muss sich noch unter ihnen befinden. Und er kann jederzeit wieder zuschlagen...
Was sich hier zunächst wie eine klassische
Whodunit-Geschichte liest und sich im Film auch erst so anfühlt, ist in Wahrheit die vielleicht interessanteste Genre-Paarung der jüngsten deutschen Kinogeschichte. Denn die vermeintliche Kriminalhandlung im reduzierten Kammerspielmodus ist lediglich Aufhänger für einen überaus spannende
n und geschickt konzipierten Psycho-Thriller-Trip, der vor vereinzelten Horrorelementen nicht zurückschreckt, dabei aber immer mal wieder den leisen, charakterbezogenen Momenten Spielzeit einräumt. Dass der Film bei dieser nicht ganz ungefährlichen Manövrierung durch verschiedenste Genres trotz allem in der Spur bleibt und nicht dasselbe Schicksal wie das titelgebende letzte Abteil erleidet, ist sicherlich bemerkenswert. Vor allem, da Schaap nach eigenem Bekunden eingangs noch einen reinrassigen Horrorfilm im Kopf hatte und erst im fortgeschrittenen Produktionsverlauf sein bestehendes Drehbuch zur jetzigen Form umschrieb. Doch wie kam es zu dieser Neuausrichtung?
Verantwortlich war wieder einmal das Drehbuch des Lebens, das sich fortwährend umschreibt und Dinge einfach passieren lässt, gute wie schlechte. Ob man es nun Schicksal nennt, oder im letzteren Fall schlicht ungerecht, ist eine Frage, die schon viele gestellt haben. Unumstößlicher Fakt ist: Andreas Schaap verarbeitete mit
„DAS LETZTE ABTEIL“ persönlich Erlebtes, was das Gezeigte gerade zum Ende hin im besten Sinne nur schwer goutierbar macht. Denn der interessierte Zuschauer sucht mit einem Mal automatisch selbst nach Antworten auf unbequeme Fragen. Antworten, die mitunter genauso unbequem ausfallen können. Schaap spielt hier nicht etwa den Moralapostel, wenn er die schwer zu beantwortende Frage, wann ein Leben noch lebenswert ist, in sein klaustrophobisch-dichtes Story-Korsett zwängt, sondern seziert ethische Überlegungen, die im Grunde uns alle angehen, mit der Präzision und Einfühlsamkeit eines unmittelbar Betroffenen. Was den packenden Mystery-Psychohorror letztlich auf eine menschlich-dramatische Ebene zieht, die man nach der Inhaltsangabe wahrscheinlich nicht erwartet hat. Garniert mit klassischen Schuld-und-Sühne-Aspekten, entfaltet sich in knapp 100 Minuten ein wahres Panoptikum des Lebens, in dem Schein und Sein, Wahn und Realität mitunter nur einen Wimpernschlag voneinander getrennt liegen.
Netterweise nimmt uns Schaap in diesem Vexierspiel immer wieder kurzzeitig an die Hand, um uns durch die verschlungenen Pfade seiner Geschichte zu leiten. Doch einige scheinbar unwegsame Passagen müssen wir dann mit etwas Anlauf doch noch selbst bewerkstelligen, um auch wirklich den allerletzten Stein vom Weg aufzusammeln. Aber da das Leben schon nicht einfach ist... So beschließt das Einsetzen des Abspanns vielleicht den Film an sich, sein clever verborgenes Diskussionspotential jedoch hat dann gerade erst begonnen, in unseren Köpfen Wurzeln zu schlagen. Und das macht am Ende den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen einem soliden und einem großartigen Film aus, bei dem vom Schnitt über die Kamera bis hin zur stimmigen Musikuntermalung so gut wie alles miteinander harmoniert.
Fazit: Drehbuchautor, Produzent und Regisseur Andreas Schaap liefert einen clever gestrickten, überraschend-tiefsinnigen und brillant gespielten Genre-Beitrag aus deutschen Landen ab, der trotz schmalen Budgets so manch größeren Vertreter seiner Zunft alt aussehen lässt. So ist „DAS LETZTE ABTEIL“ nicht nur der persönlichste Film dieses jungen Regisseurs, sondern auch dessen bestes, weil reifstes Werk geworden, was für die Zukunft Großes erwarten lässt. Bis dahin hat „DAS LETZTE ABTEIL“ wahrlich jede Aufmerksamkeit verdient.
Cover: © Little Bridge Pictures